„Wir sind nicht neugierig, wir sind nur wißbegierig“

Besondere Vorkommnisse – Heute vor 30 Jahren | Teil 2

Zsuzsa Breier | 17. April 2019

Das Jahr 1989 entwickelt sich zu dem bedeutendsten Umbruchsjahr der Nachkriegszeit Europas. Als exklusiven Vorabdruck ihres Buches gewährt die Literaturwissenschaftlerin und Diplomatin Zsuzsa Breier in vier Beiträgen für den DHM-Blog einen Einblick in die rasanten Entwicklungen in Deutschland und Ungarn vor dreißig Jahren.

Am 1. März 1989 werden in Ungarn 70 Wehrdienstverweigerer aus der Haft entlassen, nachdem ein neues Gesetz künftig auch einen zivilen Ersatzdienst ermöglicht.

An diesem Tag beraten sich in Budapest zehn Mitglieder der Kommission für Historische Gerechtigkeit (TIB). Vor knapp einem Jahr wandten sich die 32 Gründungsmitglieder mit einem Aufruf an die ungarische Gesellschaft:

Seit drei Jahrzehnten verbergen wild wuchernde Büsche an der abgelegenen Parzelle 301 des Rákoskeresztúr-Friedhof Hunderte Opfer der rachlustigen neostalinistischen Säuberungen vom 4.November 1956. Den Angehörigen wird bis heute vorenthalten, in welcher Grube, an welcher Ecke des trostlosen Gefangenenfriedhofs die Ihren liegen…

Wir wenden uns an die ungarische Gesellschaft: mit uns zusammen soll sie die ehrenvolle Bestattung der Hingerichteten und die Errichtung eines nationalen Denkmals fordern, um die Erinnerung an die stalinistische Willkür und den gegen sie gefochtenen Freiheitskampf sowie das Gedenken an die Opfer wachzuhalten.1

Auf der Tagesordnung stehen die Punkte Probe-Grabungen und Begräbnis – was diese Worte bald bewirken werden, dass das Begräbnis bald Geschichte schreiben wird, ahnt keiner der Teilnehmer.

Das MfS in Berlin ist besorgt über die Entwicklungen in  Ungarn, der Leiter der Operativgruppe (OPG) des MfS in der Ungarischen Volksrepublik Oberleutnant Weller meldet am 2. März:

Genn. OSL (Oberstleutnant) Kivago, Marika machte … mir gegenüber … Andeutungen … Dabei war eine regelrechte Angst vor den Forderungen der sogenannten alternativen Gruppen, insbesondere der sich neu formierenden Sozialdemokratischen Partei Ungarns erkennbar.

Ziele und Vorstellungen dieser Partei, die auf einer Versammlung am 1.3. 89 in Budapest verkündet wurden: – Auflösung der Militärblöcke – Souveränität und Neutralität Ungarns – Radikale Reform der Eigentumsverhältnisse – Ablehnung der Alleinherrschaft irgendeiner Organisation oder Schicht – Berufssoldaten und -offiziere sowie Anwälte und Richter sollen keiner politischen Partei angehören – Parteien sollen keine bewaffnete Organisationen um sich herum bilden. .-..

 … (Kivago) äußert besorgt die Befürchtung, daß beschlossen werden wird, daß nur Parteilose weiter im Sicherheitsapparat arbeiten dürfen und zeigte sich ratlos über eine solche Entscheidung.  … Im Verlaufe des Gesprächs kam hier jedoch eine Tendenz ihrerseits zum Vorschein, im Notfall lieber die Parteizugehörigkeit aufzugeben und im Ministerium bleiben.2

Stasi-Chef Erich Mielke legte immer großen Wert auf die Beziehungen zu den Bruderländern, bei einem Freundschaftstreffen im Jahr 1979 sagte er zu dem ungarischen Geheimdienst-Delegationsleiter:

Wir sind nicht neugierig, wir sind nur wißbegierig, weil wir für uns, für unsere Sicherheit Schlußfolgerungen ziehen müssen und weil wir die Auswirkungen solcher Erscheinungen auf die DDR erkennen müssen.3

Erich Mielke auf dem Weg zu einer SED-Kundgebung auf dem Berliner Bebelplatz, 10.09.1989, Berlin (Ost) © DHM

Im Jahre 1988 lautete eine der Schlussfolgerungen:

Wir stehen vor einer neuen Situation. Die Zusammenarbeit mit den Bruderorganen gestaltet sich nicht einfacher. Das zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahre. Z. B. verändern sich politische Verhältnisse, die nicht unserer Auffassung entsprechen.4

In der DDR gilt eine neue Reiseverordnung, sie hilft aber nicht, wenn zu viel Unterwäsche im Koffer, ein Passfoto oder ein Fotoalbum ganz schnell zum Verhängnis für die Reisenden werden können:

Lutz M. (20), Bootsbauer … nicht organisiert, keine Vorstrafen, verheiratet seit 11. 2.1989 …

Marion (20), Kellnerin, seit 27.02.89 ohne Arbeitsverhältnis.

In der politisch-operativen Bearbeitung des OV „Hochzeitsreise“ wurde der Verdacht erarbeitet, daß die Eheleute M. beabsichtigten, ihre für den Zeitraum v. 1. bis 4.03.89 geplante Hochzeitsreise nach Warschau zur Nichtrückkehr in die DDR zu nutzen. …

Da darüber hinaus erarbeitet wurde, daß die Eheleute M. für den 01.03.89 10.30 Uhr einen Flug von Bl. Schönefeld nach Warschau gebucht hatten, wurde eine Zollintensivkontrolle veranlaßt. Im Ergebnis derselben wurden anstehend aufgeführte Unterlagen bei ihnen festgestellt. …. je ein Paßfoto in Farbe von M.,Thomas und Marion … Ein pers. Fotoalbum  mit pers. Bildern (Erinnerungcharakter) … Eine Tageszeitung „Neue Zeit“ vom 14.12. 88 mit der Veröffentlichung der „Verordnung über Reisen von DDR Bürgern nach dem Ausland“ .

Darüber hinaus führten die Verdächtigen in ihrem Gepäck im Vergleich zum vorgesehenen Reisezeitraum unverhältnismäßig viel Unterbekleidung mit sich. Auf dieser Grundlage wurden beide vom Flug nach Warschau ausgesetzt und zur Verdachtsprüfung gegen 12.15 Uhr dem KD Köpenick der EG IX im PdVP Berlin zugeführt. …

Es wird vorgeschlagen, gegen Thomas M. und Marion M. Ermittlungsverfahren wegen vorbereiteter Nichtrückkehr in die DDR gem. §  213 (2) (3) 4, 5 (4) StGB einzuleiten und Haftbefehle zu erwirken.5

Das bundesrepublikanische Ärzteblatt berichtet am 1. März über die Ungarn-Hilfe der Freifrau Csilla von Boeselager, mit Bild der Baronin in ihrem holzgetäfelten Arbeitszimmer im Wasserschloss Höllinghofen,

Das Kaminzimmer im idyllisch gelegenen Schloß Höllinghofen im Arnsberger Wald wurde zur “Kommandozentrale” für ein beispielloses Unternehmen, …

… die Baronin schaffte es … innerhalb von 14 Monaten 35 Lastwagen mit einem Spendengut aus bundesdeutschen Krankenhäusern und Arztpraxen im Wert von 6,5 Millionen Mark nach Ungarn zu schicken. Seit dem 1. Januar 1989 sind bereits weitere zwölf Sendungen über die Grenze gegangen. Insgesamt haben die Spenden ein Volumen von 220 Millionen Forint erreicht. Zum Vergleich: Das ungarische Staatsministerium für Gesundheit und Soziales hat für das laufende Jahr einen Investitionshaushalt von 635 Millionen Forint…6

Hardliner der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) überlegen indes den Ausruf des Notstands, Generalsekretär Károly Grósz beruft Ende 1988 zehn Gesinnungsgenossen in eine Kommission, in der Öffentlichkeit bestreitet er, dass es sich um eine Notstandskommission handeln würde, der Kommandant der gefürchteten Kampfgruppe Munkásörség Sándor Borbély ist jedoch Mitglied der Kommission, während auf die Mitwirkung  von reformkommunistischen Genossen wie Imre Pozsgay und Miklós Németh verzichtet wird, hierzu wird sich der Parteichef später so äußern:

…der gewählten Führung der Partei konnte ich seit Beginn des Jahres 1989 nicht mehr trauen … Miklós Németh nahm uns übel, dass er in die Ausarbeitung der Pläne nicht einbezogen wurde …, ich sagte daraufhin, seine Einladung in die Kommission wäre für mich so, als ob ich auch Herrn Palmer, den US-Botschafter gleich mit beteiligt hätte …, denn egal worüber im Politbüro diskutiert wurde, Palmer war schon am nächsten Morgen im Bilde….

Denn in der Tat, während Erich Honecker und János Kádár noch mit Leonid Breschnew auf die Jagd gingen, spielt Ungarns Reform-Regierungschef Németh morgens nicht etwa mit dem sowjetischen Botschafter, sondern mit dem US-amerikanischen Botschafter Marc Palmer Tennis.

Auch andere frühere Feinde des kapitalistischen Auslands scheinen in Ungarn plötzlich gern gesehen zu sein, so der ehemalige Kronprinz Otto von Habsburg, nach 73 Jahren Abwesenheit reist er im März 1989 erstmals wieder offiziell nach Ungarn, zuletzt wohnte der damals Vierjährige 1916 der Krönungszeremonie seines Vaters Karl IV und seiner Mutter Zita in der Matthiaskirche bei, jetzt ist er 77 und kommt als Delegationsmitglied des Europäischen Parlaments in sein ehemaliges Kronland. Bis vor kurzem galt in Ungarn Einreiseverbot für die Familie Habsburg, die Ausstellung eines ungarischen Passes für die Mitglieder der Familie Habsburg ist nicht erwünscht…, ordnete die Regierung 1946 an7, aber am 15. Juli 1987 sah Ungarns Außenminister Péter Várkonyi kein Hindernis mehr für eine Einreise, angesichts der loyalen Haltung des ehemaligen Thronwärters Ungarn gegenüber und wies sogar die Grenzstation an, die Einreise ohne Hindernisse über die Bühne gehen zu lassen8, als Otto von Habsburg am 1. August 1987 seine erste, streng private Reise nach Ungarn antritt.

Ein Jahr später folgte die zweite private Reise, gerührt  soll der ehemals Thronwärter im Nationalmuseum vor der Krone gestanden haben, für noch größere Aufmerksamkeit sorgt er jedoch mit seinem offiziellem Besuch:

Für großes Aufsehen sorgt er, wo er auch erscheint, manche empfangen ihn sofort mit herausbrechender Freude, andere mit Vorbehalt, Letztere befürchten nicht nur die Rückkehr der alten Zeiten, sondern auch, dass das eine oder das andere politische Lager Wasser auf die Mühle bekommen könnte.9

Der Besuch schlägt auch im Ausland Wellen, am 3. März 1989 meldet Ungarns Botschafter aus Kopenhagen in einem streng geheimen Telegramm nach Budapest:

Ich erachte es als meine Pflicht zu melden, dass Gerhard Gmoser, Botschafter Österreichs in Dänemark …  Unverständnis bezüglich des enthusiastischen Empfangs von Otto Habsburg in Ungarn äußerte. … ob wir denn nicht die Proportionen zwischen der Delegation und Otto Habsburg verfehlt hätten?10

Ungarn muss sich erklären, der warmherzige Empfang des ehemaligen Thronwärters in einem kommunistischen Land befremdet vor allem die Sozialdemokraten in der Delegation, die reformwillige Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei will die sich gerade anbahnenden Kontakte zu Europas Sozialdemokraten nicht gefährden, deshalb erklärt das ungarische Außenministerium unverzüglich:

Die ungarische Regierung schätzt die Bemühungen von Otto Habsburg um den Ausbau der Beziehungen zwischen Ungarn und der Europäischen Union hoch, dieser Umstand bedeutet aber keinesfalls, dass wir die politische Philosophie des Genannten im allgemeinen teilen würden.11

Quellen

1 beszélö 25, 88/3 (alle Übersetzungen, wenn nicht anders angegeben, von der Autorin)
2 BStU, MfS, X. 61, 34
3 BStU, MfS, HA 9, 60
4 BStU, MfS, HA VI 8, 7
5 MfS ZOS 3584, 349
6 Die Neue Ärztliche Nr. 42, 1.3.89
7 MNL OL XXXII-J-13-2861-1946
8 MNL OL XIX-J-1-j-1987
9 MTI 18.7.1988, nach mnl.gov.hu
10 MNL OL-XIX-J-1-j-1989
11 MNL OL XIX–J–1–j–1989–A–10–10–001442


© Uwe Steinert

Dr. phil. Zsuzsa Breier

1963 in Budapest geboren, studierte an der Eötvös Loránd Universität Literatur- und Kulturwissenschaft, unterrichtete an ihrer Heimatuniversität Neuere Deutsche Literatur und an der Berliner Humboldt-Universität Kulturmanagement, wechselte 2004 in den diplomatischen Dienst, organisierte das „Kulturjahr der Zehn“, gründete die „Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa“ und publizierte die Anthologie „Freiheit, ach Freiheit…“. 2012 wurde sie von der Hessischen Landesregierung als Europastaatssekretärin berufen, 2015 leitete sie die Handelsblatt Global Edition, seit 2016 forscht sie zu dem Jahr 1989.