Demokratie – wenn das Volk sich beherrscht

Karsten Kühnel | 4. Mai 2019

Zu Demokratie fallen mir spontan ein paar Stichworte ein. Und da die Demokratie in meinen Augen einen hohen Wert besitzt, für den einzusetzen sich lohnt, möchte ich wenigstens diese Gedanken zu dieser Blogparade beitragen. Mein Beitrag ist insofern eklektischer Natur und versteht sich als Einwurf von Schlaglichtern.

Volkssouveränität

In der Demokratie ist das Volk der Souverän. Der Gedanke der Volkssouveränität trägt zur Säkularisierung des Staatsbegriffes bei. Als Souverän legitimiert das Volk seine Regierung. Es setzt sie ein und kann sie absetzen. Dies geschieht auf der Grundlage von Regeln und Instrumenten, die auf dem von ihm anerkannten gesellschaftlichen Rahmenkonsens, der Verfassung, basieren. Die Souveränität leitet sich nicht aus einer transzendental ausgerichteten Idee her, wie etwa einem Gottesgnadentum, das die Monarchie kennt. Somit ist der Souverän in der Lage, Ideologien, Lebensphilosophien, Glaubensrichtungen und Religionen anzuerkennen und zu akzeptieren, solange diese die Volkssouveränität als Grundlage des Staatswesens nicht durch politisches Handeln in Frage stellen, also realpolitisch subversiv ausgerichtet sind. Volkssouveränität legt weder sich selbst noch ihre Bürger ideologisch fest.

Freiheit

Demokratie ist kein Selbstzweck. Ein Demokrat lebt nicht, um Demokrat zu sein. Vielmehr ist er Demokrat, um zu leben. Ein herrschendes Volk (demos, kratein) erfüllt seinen Daseinszweck nicht durch das Herrschen, nicht durch das Regeln der gesellschaftlichen Regelungserfordernisse allein. Es regelt diese Erfordernisse, damit jeder Einzelne die ihm jeweils wichtigen Lebensinhalte umsetzen und gestalten kann. In der Demokratie wacht das Volk darüber, dass ein jeder den Freiraum behält, den er benötigt, um nach seiner Façon ein lebenswertes Leben zu führen. Insofern ist auch die Selbstbeschränkung des Staates auf die nötigsten Eingriffe ins Leben des Einzelnen eine wesentliche Voraussetzung für die Sicherung der individuellen und gesamtgesellschaftlichen Freiheit. Indem das Volk als Souverän selbst über seine eigene Freiheit wacht, wird es sie nicht selbst beschneiden.

Verantwortung

Indem die Demokratie das ganze Volk zum politischen Wirken auffordert und sogar in existentielle Bedrängnis geraten kann, wenn die Bürger eines Volkes diesem Ruf nicht nachkommen, ist sie eine ungeheure Herausforderung an den Einzelnen. Demokratie als Staatsform fordert unerbittlich den homo politicus. Dies ist der eine Punkt, in dem Demokratie ihrem Wesen nach unerbittlich ist. Dabei ist die Frage nicht nur, ob der Einzelne dieser Verantwortung nachkommen möchte, ob er dazu bereit ist, ja ob er überhaupt Demokrat ist, sondern auch, ob er ihr nachzukommen in der Lage ist. Es kann zahlreiche und äußerst verschiedene Gründe geben, die es schier unmöglich erscheinen lassen, diese Verantwortung mitzugestalten. Gleichwohl ist hier der Ansatzpunkt für herbe Kritik an der Funktionsfähigkeit und an der Qualität der Idee von der Volksherrschaft. Die immer wieder zitierten großen staatsphilosophischen Kontrahenten Aristoteles und Platon vertraten darin sehr gegenläufige Ansichten, die jeweils schlüssig nachvollziehbar sind. Während – verknappt skizziert – Platon die Auffassung vertrat, dass die Menge des Volks den Ansprüchen der demokratischen Staatsform an politische Bildung, Kompetenz und Mitwirkungsbereitschaft nicht gerecht wird und somit die Demokratie ad absurdum führt, meinte Aristoteles, dass jeder Mensch in sich selbst wie ein Staatswesen funktioniere und stets auf der Suche nach besten Lösungen sei. Somit sei ein jeder durch seine Lebenswirklichkeit für ein Mitwirken am großen Ganzen des Staats kompetent. Während Platon die Herrschaft der Besten favorisiert, zeigt Aristoteles, dass die Besten nicht minder zu großen Fehlern neigen als die vermeintlich Schlechten zu Gutem finden können. Der Problematik Rechnung zu tragen ist das System der repräsentativen Demokratie weitgehend in der Lage – jedenfalls solange die Repräsentanten selbst überzeugte Demokraten sind.

Rechtsstaatlichkeit

Die Krise der Demokratie, von der wir in unseren Tagen wieder sprechen, dürfte wohl ebenso eine Krise des Rechtsstaats oder zumindest des Rechtsstaatlichkeitsgedankens sein. Denn trotz all der optimistischen Anschauung der zuvor genannten Aspekte ist doch Demokratie vom Konsens des Demos, des Volks, getragen. Ob Rechtsstaatlichkeit unter diesen Konsens fällt, davon ist Demokratie an sich nicht abhängig. Eine Unrechtsstaatlichkeit ist auch in einer Demokratie vorstellbar, wenn die Volksherrschaft dabei gelebte Praxis und Überzeugung bleibt. Diese Vorstellung ist keineswegs humanistisch und möge gerne ins Gebiet der Theorie verbannt werden können. Dennoch meine ich, dass durch demokratisch zustande gekommenen Mehrheitskonsens Entscheidungen getroffen und Gesetze verabschiedet werden können, die unserem traditionellen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit zuwiderlaufen. Wenn wir heute vom Wert der Demokratie sprechen, vermisse ich häufig die Nennung des Rechtsstaats, ohne den Demokratie zu beliebig würde, um vor anderen Staatsformen herausgehoben und glaubwürdig bevorzugt legitimiert zu werden.

Verfassungstreue

Unsere Verfassung ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Demokrat im Sinne des grundgesetzlich garantierten Rechtsstaats kann nur sein, wer das Grundgesetz uneingeschränkt anerkennt und dafür einzutreten bereit ist. Im Geist dieser Demokratie haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland Parteien unterschiedlicher Couleur etabliert, die die Deutschen als Repräsentanten in die Parlamente gewählt haben, um Regierungen zu bilden, denen eines gemein war: Alle, die es zu Einfluss und Kontinuität brachten, standen auf dem Boden des demokratischen Rechtsstaats und des Grundgesetzes. Die doppelte Fragestellung: Vertritt die Partei meine persönlichen Interessen? und: Garantiert die Partei unsere staatliche Verfassung? wurde für den Wähler weitgehend obsolet. Die Parteien standen auf dem Boden der Verfassung, so dass nur die Frage nach der Interessenvertretung de facto relevant wurde. Bei Wählern anderer Parteien durfte man davon ausgehen, dass sie sich der abweichenden Stellung der Partei zum Grundgesetz bewusst waren. Heute hingegen scheint diese doppelte Fragestellung weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass zahlreiche (Protest-)Wähler bei allen maßgeblichen Parteien eine hinreichende Zustimmung zum Grundgesetz, zur Demokratie und zum Rechtsstaat vermuten und in diesem Vertrauen ihr Wahlrecht ausüben. Zeugt dies von demokratischer Verantwortung? Unwillkürlich kommen mir der griechische Geschichtsschreiber Polybios und seine Lehre vom Verfassungskreislauf in den Sinn: Beherrscht sich ein Volk verantwortungslos und hat jeder nur noch seine individuellen Interessen im Sinn, hat sich in seiner Terminologie die Demokratie zur Ochlokratie gewandelt.

Wehrhafte Demokratie

Demokratische Gesinnung wird nicht vererbt. Sie muss von jedem Glied einer demokratischen Gesellschaft neu erlernt und bewusst gutgeheißen werden. Das betrifft Wähler und zu Wählende. Demokratie lebt aus Kritik, aus Hinterfragen und Erklären. Sie ist zerbrechlich, weil sie sich stets jeder Generation aufs Neue zur Disposition stellt. Wehrhaft wird sie, wenn sie ihre Feinde zu identifizieren und zu entmachten in der Lage ist. Den Feinden der Freiheit feste Grenzen zu setzen ist die andere unerbittliche Forderung der Demokratie an die Sicherung ihrer Existenz. Schulen, Bildungsträger, Universitäten, Museen und Archive tragen durch historisch-politische Bildung im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Aufgaben und Pflichten zur Kontinuität unserer demokratischen Tradition und zum Erhalt lebendiger Demokratie maßgebend bei.

Zahlreiche weitere Aspekte könnte man noch ansprechen, etwa den Bezug des Volksbegriffes „Demos“ zum Herrschaftsbegriff „kratein“ bei supranationalen Herrschaftsmodellen wie der Europäischen Union oder ein sich möglicherweise wandelndes Demokratieverständnis angesichts einer Neupriorisierung von Werten, zum Beispiel angesichts der Bedrohungen durch den Klimawandel (FridaysForFuture-Bewegung).

Dieser Beitrag wurde im Rahmen der Blogparade #DHMDemokratie von Karsten Kühnel verfasst.