„In der Welt gab es heute keine Sensationen“

Besondere Vorkommnisse – Heute vor 30 Jahren |
Teil 3

Zsuzsa Breier | 7. August 2019

Das Jahr 1989 entwickelt sich zu dem bedeutendsten Umbruchsjahr der Nachkriegszeit Europas. Als exklusiven Vorabdruck ihres Buches gewährt die Literaturwissenschaftlerin und Diplomatin Zsuzsa Breier in vier Beiträgen für den DHM-Blog einen Einblick in die rasanten Entwicklungen in Deutschland und Ungarn vor dreißig Jahren.

In der Woche ab dem 6. März 1989 beginnen in Wien im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen

… mit dem Ziel, einen neuen Satz einander ergänzender vertrauens- und sicherheitsbildender Maßnahmen auszuarbeiten und anzunehmen, die darauf gerichtet sind, die Gefahr einer militärischen Konfrontation in Europa zu vermindern.1

Noch bis zum 9. März findet indes in Bonn die geheime Nato-Stabrahmenübung Wintex-Cimex 89 statt,

… sie wird alle zwei jahre gegen ende des winters durchgefuehrt, es ist die zehnte uebung dieser art. mit ihr werden verfahren ueberprueft, die vorsorglich fuer eine krise und fuer den verteidigungsfall vorbereitet sind.  … die uebung geht von der annahme einer politisch- militaerischen krise aus. grundlage des uebungsgeschehens ist eine in der nato abgestimmte und einvernehmlich festgelegte, jedoch frei erfundene lage und ihre fiktive weiterentwicklung.2

Das Wintex-Cimex-Drehbuch 89 überbietet an Dramatik all die bisherigen Drehbücher, auf einen atomaren Erstschlag soll diesmal auch ein Zweitschlag folgen, weite Teile der DDR, Polen, Tschechoslowakei und Ungarn wären damit verwüstet – Helmut Kohl greift ein und die Übung wird abgebrochen, Der Spiegel berichtet:

… Doch anders als sonst spielten die Westdeutschen diesmal nicht so mit, wie es das von Nato-Stäben geschriebene Übungsdrehbuch vorsah.

Zwar versammelten sich Bundesregierung und das „Notparlament“ vorschriftsmäßig in den tiefen Stollen des Regierungsbunkers im Ahrtal;  …

Mit dem Placet Helmut Kohls begann die „vorbedachte Eskalation zur Wiederherstellung der Abschreckung“: 25 Atombomben explodierten in Polen und der Sowjet-Union. …

An dieser Stelle war bei bisherigen Wintex-Übungen Schluß. Diesmal aber sollte, so das Drehbuch, der Irrsinns-Krieg weitergehen. Die Nato-Militärs wollten auch noch einen atomaren „Zweitschlag“ führen, weil der Gegner nicht kapitulieren mochte.

Das war den Deutschen ein Schlag zuviel. …  Helmut Kohls Order an Übungskanzler Schreckenberger war knapp: „Wir steigen aus!“3

Der Wetterbericht am 7. März, meist heiter, mäßiger Wind, erfüllt Winfried Freudenberg mit Glück, es fühlte sich an fast wie eine Befreiung nach all diesen Monaten der Angst davor, entdeckt zu werden, wird seine Frau später zu Protokoll geben, denn schon seit Mitte Februar warten die beiden auf den guten Wind, der Ballon ist fertig, der studierte Ingenieur Freudenberg hatte ihn aus Frühbeetfolie gefertigt, das Ehepaar wartet, bis es dunkel wird, erst dann beginnen sie den Trabant zu beladen, das Wichtigste, der Schlüssel zu der Reglerstation der Berliner Gasversorgung in Pankow steckt auch in Winfried Freudenbergs Tasche, nur deshalb, für diesen Schlüssel nahm er den Job bei dem Energiekombinat in Berlin an, erst vor einigen Monaten, er plante alles mit der Präzision eines Ingenieurs, nur der Kellner, eigentlich war er ein Gelegenheitsjobber, war nicht einkalkuliert.

Er zapft schon in Pankow das Gas an, die mit Sand gefüllten Taschen, gebündelte Wäsche und auch zehn Musikkassetten sind schon an Bord, der Ballon noch nicht ganz gefüllt, als gegen 1.30 Uhr der Gelegenheitskellner, unterwegs von seiner Nachtschicht aus etwa 500 Meter Entfernung die Silhouette der weiß schimmernden Folie sichtet und die Volkspolizei alarmiert.

2.10 Uhr ist der Ballon noch immer nicht ganz aufgerichtet, als Sabine und Winfried Freudenberg vor dem abgelegenen Gelände einen Wagen bremsen hören, Wir müssen los, ruft er, sie aber zögert, Wie soll das gehen, panisch klingt ihre Stimme, Das Gas reicht doch nicht für uns beide, aus dem Streifenwagen stürmen Polizisten auf das Gelände, Flieg, sagt sie, Wir stehen das schon durch, er zögert, Flieg los, er kappt das Ankerseil, Er sah so hilflos aus, wird sie später erzählen, sie versteckt sich im Gebüsch, die Volkspolizisten bemerken sie nicht, sie schauen zu, wie der Ballon in die Höhe schießt, er streift einen Stromkabel und entschwindet vor ihren Augen, einen Befehl, an der Gasstation Schüsse abzufeuern, gab es nicht, auf dem Boden finden sie ihre Tasche mit der Heiratsurkunde –

Am 8. März um 7.00 Uhr begrüßt die Morgensendung des ungarischen Rundfunks Chronik mit fröhlicher Stimme ihre Zuhörer:

In der Welt gab es heute keine Sensationen, hervorheben möchte ich trotzdem eines, weil es auch uns betrifft, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen entwickeln sich gut, dies haben die beiden Außenminister gestern in Wien festgehalten.4

berlin (ap) meldet:

die westberliner polizei hat einen ballon mit geschätzten 15 metern durchmesser in der nähe der mauer gefunden und vermutet nun, dass möglicherweise einem ddr-bürger die flucht in den westteil der stadt missglückt ist. …die beamten hätten … gegenstände, ein radio, bücher und kleidung gefunden, die alle aus der ddr stammen. der ballon, der zunächst für einen wetterballon gehalten worden sei, sei zur weiteren Untersuchung in ein labor gebracht worden. dort sollte auch bestimmt werden, ob überhaupt ein mensch darin hätte fliegen können.5

Am 8. März habe ich dem IM-Kand. zum internationalen Frauentag Glückwunsch und Blumen übermittelt und dafür 260,- Ft bezahlt, berichtet Baranyai von Budapest aus an die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße, Treffauswertung mit IM-Kand. „Wölfi“,6 die IM-Kandidatin „Wölfi“ ist eine junge Deutschlehrerin, gerade beginnt sie ihre Tätigkeit als DDR-Lektorin an der Lehrerausbildungshochschule Baja, sie beobachtet dort ganz genau, wie die Lage in Ungarn sich zuspitzt, und meldet regelmäßig von ungarischen Kollegen und Studierenden, von ihren Absichten gegen den Sozialismus und den Weltfrieden.

Wir werden vierzig / 8. März 1989, Elke Görtz, Demokratischer Frauenbund Deutschlands, Neues Deutschland, Berlin 1989 © DHM

Wir werden vierzig / 8. März 1989, Elke Görtz, Demokratischer Frauenbund Deutschlands, Neues Deutschland, Berlin 1989 © DHM

An diesem Mittwoch, den 8. März wird die ehemalige RAF-Terroristin Angelika Speitel von Bundespräsident Richard von Weizsäcker begnadigt, am 30. November 1979 wurde sie zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, wegen der Beteiligung an der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer, Bundespräsident von Weizsäcker macht von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch, trotz heftiger Proteste, insbesondere aus den Reihen der Schwesterpartei CSU rührt sich Widerstand, die Münchner Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner erregt sich über den pervertierten Gnadenakt, CSU-Generalsekretär Erwin Huber sagt, es sei ein falsches Signal, wenn ausgerechnet Staatsfeinde einen besonderen Gnadenerweis bekämen, Der Spiegel aber würdigt den Gnadenakt, Sie hat aufrichtig bereut (11/1989), titelt der Magazin am 13. März 1989, auf dem Cover der Ausgabe ein überlebensgroßer übermächtiger Deutsche-Bank Chef Alfred Herrhausen, den Herrn des Geldes nennt ihn Der Spiegel, niemand kann an diesem Frühlingstag ahnen, dass der deutsche Herbst bald wieder für ein Nachspiel zurückkehrt und ausgerechnet den Herrn des Geldes treffen wird.

Spätabend des 8. März meldet der Rundfunk im amerikanischen Sektor RIAS aus seinem Westberliner Studio in der Kufsteiner Straße in Schöneberg:

Der ungewöhnliche wie waghalsige Fluchtversuch endete für einen 32jährigen DDR-Bürger heute früh tödlich. Der Mann hatte mit einem selbstgebastelten Ballon bereits die Sperranlagen überwunden, als er abstürzte. …

Wenige Hundert Meter weiter, am Nachmittag gegen 15.00 Uhr, in der Limastraße 9. kurz hinter dem Mexikoplatz auf einem Grundstück, wird die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Der Staatsschutz schaltet sich sofort in die Ermittlungen ein. Doch weder der Hauseigentümer noch die Polizei geben Auskünfte. Anwohner sagen, wir haben nichts bemerkt, wir wunderten uns nur über den plötzlichen Trubel hier.

Am 9. März liest Erich Honecker den MfS-Bericht an SED-Generalsekretär Erich Honecker über die Flucht von Winfried Freudenberg mit einem Gasballon

INFORMATION über das ungesetzliche Verlassen der DDR durch eine männliche Person mittels Gasballon nach Westberlin am 8. März 1989

In den Morgenstunden des 8. März 1989 hat der Bürger der DDR

Freudenberg, Winfried (32)

geb. am 29. August 1956

Hauptwohnung: Lüttgenrode, Kr. Halberstadt/Magdeburg, (…)

Nebenwohnung: 1055 Berlin, (…)

Beruf: Diplomingenieur für Informationstechnik

tätig gewesen als Ingenieur für Systementwicklung Gas/Mikrorechentechnik und Prozeßsteuerung im VEB Energiekombinat Berlin

mittels eines selbstgefertigten Gasballons widerrechtlich die Staatsgrenze der DDR nach Westberlin überflogen. Die durch das MfS im Zusammenwirken mit der Deutschen Volkspolizei bisher geführten Untersuchungen ergaben:

Im Ergebnis der Information eines DDR-Bürgers an die Deutsche Volkspolizei über getroffene Feststellungen zu einem auf dem Gelände der Ortsregelanlage des Energiekombinates Berlin in 1122 Berlin-Blankenburg, Schäferstege 14, befindlichen Flugballon nahm die unverzüglich zum Ereignisort befohlene Besatzung eines Funkstreifenwagens gegen 2.10 Uhr den Aufstieg dieses Flugkörpers mit einer daran festgeschnallten Person wahr.

Der Ballon verursachte nach dem Abheben durch Berührung mit einer Energiefreileitung einen Kurzschluß, der zum Ausfall der Stromversorgung einer angrenzenden Kleingartenanlage führte. Nachfolgend entfernte sich der Ballon in westlicher Richtung und wurde über dem Territorium der DDR nicht wieder gesichtet.

Eine Anwendung der Schußwaffe durch die Angehörigen der Deutschen Volkspolizei erfolgte nicht.

Im Ergebnis der Ereignisortuntersuchung sowie von unverzüglich eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen wurde die Ehefrau des DDR-Bürgers

FREUDENBERG, Winfried, XX (24), geb. am XX, Beruf: XX, tätig als XX

als Mittäterin identifiziert und festgenommen.7

Quellen

1 www.osce.org
2 www.bundesregierung.de
3 spiegel 11/80 v.13.3.89
4 osa 8.3.89-b,551
5 Deutschland 1989, Hg . Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
6 MfS-HA II, Nr.38790, 159
7 BStU, MfS, ZAIG Nr. 3745, Bl. 1-5


© Uwe Steinert

Dr. phil. Zsuzsa Breier

1963 in Budapest geboren, studierte an der Eötvös Loránd Universität Literatur- und Kulturwissenschaft, unterrichtete an ihrer Heimatuniversität Neuere Deutsche Literatur und an der Berliner Humboldt-Universität Kulturmanagement, wechselte 2004 in den diplomatischen Dienst, organisierte das „Kulturjahr der Zehn“, gründete die „Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa“ und publizierte die Anthologie „Freiheit, ach Freiheit…“. 2012 wurde sie von der Hessischen Landesregierung als Europastaatssekretärin berufen, 2015 leitete sie die Handelsblatt Global Edition, seit 2016 forscht sie zu dem Jahr 1989.