Wozu das denn? Roulette und Telegrafie

Melanie Lyon | 9. April 2021

Warum steht im Bereich zur Presse des 19. Jahrhunderts in der Ausstellung „Von Luther zu Twitter. Medien und politische Öffentlichkeit“ ein Roulettekessel? Was hat er mit einem Hackerangriff auf das französische Telegrafennetz zu tun? Kuratorin Melanie Lyon berichtet von einem kuriosen (Gauner-) Stück Geschichte.

Der Roulettekessel in der aktuellen Wechselausstellung gehörte den französischen Zwillingsbrüdern François und Louis Blanc und kam in ihrer Homburger Spielbank im Mai 1841 erstmals zum Einsatz. Schnell gelang es den gewitzten Geschäftsleuten, die gesamte Spielerszene auf sich aufmerksam zu machen. In allen wichtigen Zeitungen wurde mitgeteilt, dass in Homburg die Doppelnull, welche eine doppelte Chance für die Spielbank bedeutete, abgeschafft sei. Nur wenige Jahre zuvor hatten die Blancs selbst ihr Vermögen durch Spekulationsgewinne an der Börse angehäuft – mithilfe der optischen Telegrafie, einem neuartigen Kommunikationsmittel, das damals eigentlich nur der staatlichen Kommunikation vorbehalten gewesen war.

Beschreibung und Abbildung des Telegraphen, oder der neuerfundenen Fernschreibemaschine in Paris, Georg Bullmann, Augsburg, 1795 © DHM

Beschreibung und Abbildung des Telegraphen, oder der neuerfundenen Fernschreibemaschine in Paris, Georg Bullmann, Augsburg, 1795 © DHM

Im Vergleich zu heute, wo Algorithmen an der Börse in Millisekunden Entscheidungen treffen, erscheint die optische Telegrafie sehr langsam. Entwickelt wurde sie während der Französischen Revolution und vernetzte im 19. Jahrhundert durch zahlreiche Telegrafentürme die Städte Frankreichs. Mithilfe von schwenkbaren Signalarmen konnten von dort aus über festgelegte Codes Nachrichten über weite Strecken verschickt werden. So verband ab 1794 eine erste Linie von insgesamt 22 Stationen die Städte Paris und Lille. Ein einzelnes Symbol konnte diese Strecke von etwa 270 Kilometern nun innerhalb von nur wenigen Minuten überwinden. Der Zugang zu dem neuartigen Kommunikationsnetz stand allerdings nur den staatlichen Stellen offen, welche die Telegrafie hauptsächlich für administrative und militärische Zwecke nutzten. Aus Angst vor Verschwörungen und Aufständen, aber auch mangels ausreichender Ressourcen, sollten alle anderen Nachrichten aus Paris die Provinz weiterhin nur mit den Postkutschen erreichen. So dauerte auch der Weg der aktuellen Kurse der Pariser Börse nach Bordeaux, wo die Brüder Blanc ansässig waren, weiterhin drei Tage.

Roulettekessel, um 1840, Städtisches historisches Museum/Museum Gotisches Haus Bad Homburg v. d. Höhe / Foto: DHM

Roulettekessel, um 1840, Städtisches historisches Museum/Museum Gotisches Haus Bad Homburg v. d. Höhe / Foto: DHM

Nach erfolglosen Versuchen mithilfe von Brieftauben schneller an die gewünschten Informationen aus der Hauptstadt zu kommen, kamen Louis und François im Jahr 1834 auf eine Idee: Warum nicht den optischen Telegrafen hacken? Ein Unterfangen, für das man damals vergleichsweise wenig technisches Knowhow brauchte. Die Telegrafenstationen hatten hohen Personalbedarf und waren – auch durch die Wetterabhängigkeit – sehr fehleranfällig. Die Telegramme wurden deshalb auf halbem Weg zwischen Paris und Bordeaux in Tours nochmals decodiert, um zu große Fehler bei der Übertragung über solch lange Strecken auszuschließen. Hier lag der ideale Angriffspunkt für die Brüder: Sie bestachen den Direktor des Telegrafenamtes in Tours sowie seinen Assistenten und beschäftigten zudem einen Agenten in Paris, der die dortigen Kurse beobachtete. Kam es zu signifikanten Kursänderungen der Staatsrente, schickte dieser ein Päckchen an die Telegrafenstation in Tours: Stieg der Kurs waren Handschuhe darin, fiel der Kurs, kamen Socken an. Die Telegrafenbeamten bauten nun unauffällige Fehler in die staatlichen Telegramme ein, die in Bordeaux vom Signalturm abgelesen werden konnten, noch bevor die reguläre Post eintraf. Durch diese rudimentären Informationen mit kleinem Zeitvorsprung erzielten die Blancs über zwei Jahre hinweg beachtliche Spekulationsgewinne. Erst 1836, als die Telegrafenstation in Tours mit einem neuen Assistenten besetzt werden sollte, flog der Fall auf. Mangels gesetzlicher Grundlagen konnten die Brüder allerdings nur wegen Beamtenbestechung belangt werden und behielten einen Großteil ihrer Gewinne.

Vor dem Hintergrund des spektakulären Falls erließ König Louis-Philippe 1837 ein Gesetz über das staatliche Kommunikationsmonopol für die Telegrafie, mit dem die unautorisierte Signalübertragung zukünftig hart bestraft werden konnte. Die Frage der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Partizipation an den verfügbaren Kommunikationsinfrastrukturen war damit aber noch nicht abschließend geklärt. Sie regelte sich auch mit technischen Innovationen immer wieder neu. In Frankreich wurde die elektrische Telegrafie nur 14 Jahre später von Louis-Napoleon Bonaparte für den allgemeinen Nachrichtenverkehr freigegeben, auch wenn das staatliche Monopol über die Telekommunikationsnetze bis in die 1980er Jahre Bestand haben sollte. So bedurfte es dann zwar keiner krimineller Energie mehr, um schnellstmöglich Informationen weiterzugeben. Der Verdacht, die Entkoppelung von Raum und Zeit durch die Telegrafie könnte – gerade auch von der Wirtschaft – missbräuchlich genutzt werden, war damit aber längst nicht aus der Welt.