Fred Steins Pariser Emigrantenportraits

Ulrike Kuschel | 28. April 2021

In der Ausstellung „Report from Exile – Fotografien von Fred Stein“ sind 40 Portraits ausgestellt, die der Fotograf zwischen 1934 und 1939 in Paris aufnahm. Kuratorin Ulrike Kuschel beschreibt, in welchen Kreisen Fred Stein verkehrte und welche schon damals renommierten Persönlichkeiten er fotografierte.

Im Juni 1935 versammelten sich in Paris rund 250 Schriftsteller*innen aus 38 Ländern auf dem Ersten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur. Auch der Autodidakt Fred Stein war anwesend. Ob er einen Auftrag hatte oder wie so oft in eigener Sache fotografierte, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Neben Stein dokumentierte den Kongress eine weitere 1933 aus Deutschland geflüchtete Fotografin, Gisèle Freund. Beide fotografierten jeweils mit einer Leica, die sie auf der Flucht aus Deutschland mitgenommen hatten. Die erste Kleinbildkamera der Welt – klein und handlich – war nicht nur bei Amateur*innen sehr populär, denn sie ermöglichte unauffällige Schnappschüsse: So gelang Stein mit seiner gebraucht gekauften Leica I[1] am Rande des Internationalen Schriftstellerkongresses eine geradezu ikonische Aufnahme von Boris Pasternak, umringt von Ilja Ehrenburg, Gustav Regler und André Malraux.

Boris Pasternak (sitzend) auf dem Internationalen Schriftstellerkongress, hinter ihm Ilja Ehrenburg, Gustav Regler und André Malraux (mit dem Rücken zur Kamera), Paris, Juni 1935 © Stanfordville, NY, Fred Stein Archive

Fred Stein, der eigentlich Jura studiert hatte und im Herbst 1933 aus Deutschland floh, als „infolge von massenweisen Verhaftungen Gleichgesinnter zu befürchten war, dass [er] in die bevorstehenden Prozesse verwickelt würde“[2], begann im Februar 1934 in Paris als Portrait- und Pressefotograf zu arbeiten. Hier hat er zahlreiche bekannte Intellektuelle und Gegner*innen des NS-Regimes fotografiert: Von den 33 besonders prominenten Regime-Gegner*innen, deren Namen auf der ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reiches vom August 1933[3] aufgeführt sind, hat er mindestens neun fotografiert, einige allerdings erst später in New York. Wie kam es, dass ein junger Autodidakt – Stein war bei seiner Flucht 24 Jahre alt – all diese bekannten Persönlichkeiten in Paris vor die Linse seiner Kamera bekam?

Nimmt man die politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten der von Stein Portraitierten genauer in den Blick, fallen zwei im Jahr 1933 in Paris gegründete Exilorganisationen ins Auge: der von den Kommunisten dominierte Schutzverband deutscher Schriftsteller im Ausland und der Verband deutscher Journalisten in der Emigration. Stein, seit 1935 Mitglied im Journalistenverband, wurde 1937 in den Vorstand gewählt. 1965 erläuterte er Werner Berthold, dem Leiter des Deutschen Exilarchivs, die Entstehung seiner „wahrscheinlich […] grösste[n] Sammlung von Fotos solcher Autoren [Emigranten], die ein Fotograf je selbst gemacht hat“[4], damit, dass er als Kassenwart „persönlichen Kontakt mit diesen Autoren gehabt“[5] habe.

Wolf Franck im Café du Dôme, Paris, um 1935, Frankfurt am Main, Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv, 1933–1945, EB autograph 1036 © Stanfordville, NY, Fred Stein Archive

Einige dieser Autoren waren zugleich im Schutzverband deutscher Schriftsteller aktiv. So zum Beispiel der Journalist Wolf Franck, den Stein 1935 – Zeitung lesend und Pfeife rauchend – im berühmten Café du Dôme, dem Stammlokal vieler Künstler*innen und Intellektueller, fotografierte. Ebenfalls im Café du Dôme, das der französischen Polizei als „Treffpunkt der ‚Linksextremen‘“[6] ein Dorn im Auge war, nahm Stein 1936 das einzige gemeinsame Bild des Fotograf*innenpaares Robert Capa und Gerda Taro auf. Taro mietete eine Zeitlang ein Zimmer bei Fred Stein und seiner Ehefrau Lilo, die von Montmartre in eine größere Wohnung in der Rue Abel-Ferry im 16. Arrondissement gezogen waren. Steins Aufnahme seiner Untermieterin an der Schreibmaschine erschien 1938 in der kommunistischen Zeitschrift „Regards“.[7] Anlass für die Veröffentlichung war der erste Todestag der jungen Fotografin, die im Spanischen Bürgerkrieg von einem Panzer überrollt worden war.

Gerda Taro, Paris, 1936 © Stanfordville, NY, Fred Stein Archive

1934 fotografierte Stein den Lyriker und Erzähler Rudolf Leonhard, der in verschiedenen Funktionen „die Aktivitäten des politisch-literarischen Exils in Frankreich über ein Jahrzehnt maßgeblich mitbestimmt[e], ja, […] geradezu in ihrer Vielfalt wie in ihrem Scheitern [verkörperte]“.[8] Steins Fotografie zeigt Leonhard in einer Mansarde mit einem melierten Wollpullunder bekleidet. Möglicherweise sollte der Pullunder gegen die Kälte schützen, denn die schlechte Isolierung und zahllose Treppenstufen waren die Kehrseite der günstigeren Dachkammern, die von den finanziell klammen Emigrant*innen bewohnt wurden.

Rudolf Leonhard, Paris, um 1934, Frankfurt am Main, Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, EB autograph 1078 © Stanfordville, NY, Fred Stein Archive

Auch Alfred Kantorowicz, der mit Rudolf Leonhard und David Luschnat ehrenamtlich die organisatorischen Arbeiten des Schutzverbandes leitete[9], wohnte in einer solchen Mansarde. 1935 fotografierte ihn Stein höchstwahrscheinlich in der „winzigen Dachkammer im Hotel Helvetia“[10], die Kantorowicz mit seiner Partnerin teilte. Von links fällt Tageslicht in die „2,40 mal 3,50 im Quadrat“,[11] auf denen auch Sitzungen mit Freunden und Mitgliedern des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller abgehalten wurden, wie Kantorowicz in seinem autobiografischen Text „Alltag in der Emigration“ festhielt[12]. Auf einem Foto, das Fred Stein wohl besonders gelungen schien – er tonte den Abzug in einem warmen Braun – steht Kantorowicz, der außerdem die Deutsche Freiheitsbibliothek leitete, die alle in Deutschland „verbotenen, verbrannten, zensurierten oder totgeschwiegenen Werke“ [13] sammeln sollte, mit dem Rücken zur Kamera vor einem Spiegel. Auch hier prägt sich der nachdenkliche Gesichtsausdruck des in eine kragenlose Lederjacke gekleideten Emigranten ein.

Alfred Kantorowicz, Paris, 1935 © Stanfordville, NY, Fred Stein Archive

Der Ehrenvorsitzende des Schutzverbands deutscher Schriftsteller und Präsident der Deutschen Freiheitsbibliothek Heinrich Mann lebte von 1933 bis 1940 in Nizza. Zu Besuch in Paris logierte er im prächtigen Hotel Lutetia im Quartier Saint-Germain-des-Prés, Treffpunkt der internationalen Elite: „Du erreichst mich brieflich oder telegraphisch bis 25. in Paris (7.) Hotel Lutetia, Bd. Raspail“, informierte er im November 1935 seinen Bruder Thomas Mann.[14] Seit September 1935 traf sich hier der sogenannte Lutetia-Kreis, bestehend aus Kommunisten, Sozialdemokraten, Vertretern anderer sozialistischer Gruppierungen, sogenannten Katholiken und Bürgerlichen, vornehmlich Schriftsteller, die eine antifaschistische Grundhaltung teilten. Im Februar 1936 wurde hier der Ausschuss zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront gegründet. 1936, nach der Tagung zur Gründung einer deutschen Volksfront – wie die Beschriftung auf der Rückseite seiner Fotografien informiert – portraitierte Stein den Vorsitzenden des Lutetia-Comités Heinrich Mann sowie Ernst Toller, der sich gleichfalls unermüdlich gegen den Nationalsozialismus engagierte. Diese Portraits, aufgenommen von Fred Stein, gehören zu den äußerst seltenen fotografischen Dokumenten der deutschen Volksfrontbewegung, die an den ideologischen Differenzen der verschiedenen Gruppierungen im Exil letztlich scheiterte.

Heinrich Mann nach der Tagung zur Gründung einer Deutschen Volksfront im Hotel Lutetia in Paris, 1936 © Stanfordville, NY, Fred Stein Archive, Foto: Herling/Herling/Werner, Sprengel Museum Hannover

Heinrich Mann nach der Tagung zur Gründung einer Deutschen Volksfront im Hotel Lutetia in Paris, 1936 © Stanfordville, NY, Fred Stein Archive, Foto: Herling/Herling/Werner, Sprengel Museum Hannover

Quellen

[1] Brief von Fred Stein an Dr. Otto Croy, 25. Juni 1954 (Fred Stein Archive, Stanfordville, NY).

[2] Fragebogen zum Antrag auf Anerkennung als Flüchtling, „Umstände der Auswanderung“, 30. Dezember 1936, Archives de la Préfecture de Police de Paris. Stein, schon früh in sozialistischen Jugendorganisationen aktiv, war seit 1931 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei SAP.

[3] Bis zum April 1945 wurden im Preußischen Staatsanzeiger 358 weitere solche Listen mit insgesamt 39.006 Namen veröffentlicht.

[4] Brief von Fred Stein an Dr. Werner Berthold, Leiter des Deutschen Exilarchivs Frankfurt, 10. August 1965, Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.

[5] Ebd.

[6] Anne-Marie Corbin: Die Bedeutung der Pariser Cafés für die geflohenen deutschsprachigen Literaten. In: Fluchtziel Paris. Die deutschsprachige Emigration 1933-1940, Hrsg. v. Anne Saint Sauveur-Henn, Berlin 2002, S. 93.

[7] Regards, 7. Jg., Nr. 236, Ausgabe vom 21. Juli 1938.

[8] https://www.deutsche-biographie.de/gnd118727559.html#ndbcontent, abgerufen am 1. März 2021.

[9] Alfred Kantorowicz: Politik und Literatur im Exil. Deutschsprachige Schriftsteller im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Christians, Hamburg 1978. S. 163.

[10] Ebd., S. 300.

[11] Alfred Kantorowicz: Alltag in der Emigration. In: Ders.: In unserem Lager ist Deutschland. Reden und Aufsätze. Paris, Éditions du Phénix, 1936. Neu abgedruckt in: Report from Exile – Fotografien von Fred Stein, hrsg. von Raphael Gross und Ulrike Kuschel für das Deutsche Historische Museum, Berlin 2020. S. 94.

[12] Ebd., S. 96.

[13] Alfred Kantorowicz: Politik und Literatur im Exil. Deutschsprachige Schriftsteller im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Christians, Hamburg 1978. S. 257.

[14] Thomas Mann, Heinrich Mann: Briefwechsel 1900-1949, Frankfurt am Main 1984, S. 225.