Karl Marx und der Kapitalismus

Eröffnungsrede von Raphael Gross

10. Februar 2022

Die Ausstellung „Karl Marx und der Kapitalismus” wurde am 8. Februar 2022 eröffnet. In diesem Rahmen sprach Raphael Gross, Präsident des Deutschen Historischen Museums, über die Idee zur Ausstellung.

Präsident Raphael Gross bei Eröffnung der Ausstellung "Karl Marx und der Kapitalismus", Berlin 08.02.2022
Präsident Raphael Gross bei Eröffnung der Ausstellung „Karl Marx und der Kapitalismus“, Berlin 08.02.2022 © DHM/Mathias_Voelzke

11 Personen waren – darauf macht Branko Milanovic in unserem Katalog aufmerksam – bei der Beerdigung auf dem Friedhof in Highgate in London versammelt, als dort Karl Marx am 17. März 1883 zu Grabe getragen worden war.

Sein Grab war schlicht und vor dem Hintergrund dessen, was Sie wahrscheinlich in Erinnerung haben, spannend. Dem unscheinbaren Grab von 1883 wurde 1956 nämlich auf Initiative der Kommunistischen Partei Großbritanniens und mit finanzieller Unterstützung aus der damaligen Sowjetunion auf demselben Friedhof ein monumentales Grabdenkmal errichtet. Es zeigt Marx mit seinem Markenzeichen, dem wallenden Bart und der beeindruckenden Mähne. Die Differenz der beiden Gräber spiegelt ziemlich genau die Differenz zwischen der Bekanntheit und Ausstrahlung von Marx im 19. Jahrhundert und seiner posthumen Wirkung danach. In der Ausstellung gehen wir also quasi drei Schritte zurück: Wir beleuchten Marx in der Zeit, bevor sein Werk durch seinen Freund und Mitautor Friedrich Engels eine starke Verbreitung fand. Und natürlich gehen wir vor die Zeit zurück, in der Lenin Marx zum ideologischen Vater der Oktoberrevolution erhoben hat. Und drittens gehen wir vor die Zeit zurück, in der durch die kommunistische Internationale im Kampf gegen den Imperialismus in der „Dritten Welt“ in China, Vietnam, Jugoslawien, Kuba, Angola, Ghana, Südafrika weltweit Marx zu einer Ikone geworden ist.

Das alles war er noch nicht zu seinen Lebzeiten und das spiegelt sich auch in seinem ursprünglichen, schlichten Grab wieder. Die Schwierigkeit, den Marx des 19. Jahrhunderts zu historisieren – und das heißt, ihn so wahrzunehmen, dass der historische Abstand zur Quelle neuer Erkenntnisse und Erfahrungen auch in Bezug auf die Gegenwart wird – hat etwas zu tun mit der eigentümlichen Schwierigkeit, die wir haben, wenn wir den Begriff Kapitalismus zu historisieren versuchen. Wir haben alle eine bestimmte Vorstellung davon was Kapitalismus ist – nur nicht dieselbe. Das hat mich dazu motiviert, am DHM eine Ausstellung zu zeigen, die sich Kapitalismus zum Thema macht. Ein historisch spannender Zugriff erschien mir dabei dies mit dem Fokus auf zwei Figuren zu versuchen, die gemeinhin nicht miteinander in Verbindung gebracht werden: Karl Marx und Richard Wagner

Beide Personen scheinen für viele Menschen bis heute eine attraktive Erklärung für die Probleme des Kapitalismus zu bieten. Oftmals vereinfachen sich dabei die Dinge auf eine Weise, die leicht vieles zu erklären scheint. Einmal durch die Mechanismen des Kapitals. Einmal durch die Herrschaft heimlicher Mächte und vor allem der Juden.

Genau wie wir, haben Karl Marx und Richard Wagner unter Kapitalismus etwas jeweils ganz Anderes verstanden. Er steht ihnen genau genommen als Begriff, wie wir ihn kennen, noch gar nicht zur Verfügung. Im 20. Jahrhundert berief sich der Marxismus auf Marx‘ Lehren; Marxismus wurde zur Ideologie auch von Staaten, die im Namen von Kommunismus und Sozialismus Folter und Mord begingen. Auf Wagner beriefen sich im 20. Jahrhundert Strömungen, die direkt mit massiven Verbrechen, radikalem völkischen Antisemitismus und in der Folge mit Nationalsozialismus und Holocaust in Verbindung stehen. Anhänger und Gegner von Marx und von Wagner interpretieren diese Linien vom 19. ins 20. Jahrhundert hinein extrem unterschiedlich. Wenn unsere Ausstellung dazu etwas beiträgt, dass wir durch den historischen Kontext die Fragen dieser Linien neu aufwerfen und vielleicht auch die Bedeutung der beiden für die Gegenwart in einem neuen Kontext ermöglichen, haben wir, wie ich finde, für eine historische Ausstellung vieles erreicht.