Wozu das denn? Ausreisedokument für eine Polin jüdischer Herkunft

Dariusz Stola | 21. September 2022

In den 1960er-Jahren lebten in der Volksrepublik Polen noch etwa 30.000 Jüdinnen*Juden. Während die meisten Holocaust-Überlebenden emigriert waren, waren die in Polen Verbliebenen stark heimatverbunden, urban und oft gut ausgebildet; viele hatten Karriere in Wirtschaft, Verwaltung, Kultur und Wissenschaft gemacht. Umso drastischer traf sie die antisemitische Kampagne ab 1968, die von der Kommunistischen Partei Polens ausging. In unserer Reihe „Wozu das denn?” stellt Historiker Dariusz Stola das Ausreisedokument von Anna Trachtenherz vor, die mit ihrer Familie im Rahmen der Kampagne ausreiste und welches in der Ausstellung „Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789” zu sehen ist.

Auf den ersten Blick sieht das Dokument wie ein Reisepass aus. Es beinhaltet den Vor- und Nachnamen der auf dem Lichtbild dargestellten Person, ihr Geburtsdatum, ihren Geburts- sowie Wohnort, Angaben zu ihrer Größe und Augenfarbe. Jede Rubrik ist in drei Sprachen beschriftet: auf Polnisch, Russisch und Französisch. Das Dokument dient der Bestätigung der Identität einer Person. Doch ausschlaggebend ist hier der Satz oberhalb des Namenfeldes, der besagt, wer diese Person nicht ist: „Der Inhaber dieses Dokuments ist kein polnischer Staatsbürger.“

Ausreisedokument für eine Polin jüdischer Herkunft mit dem Hinweis „Der Besitzer ist kein polnischer Staatsbürger mehr“, Warschau, 1969 © Muzeum Historii Żydów Polskich

Die von kommunistischen Behörden in Polen ausgestellten „Reisedokumente“ waren keine polnische Erfindung. Viele Staaten gaben und geben immer noch ähnliche Ausweise für Ausländer*innen aus, die keine anderen Identitätsnachweise vorlegen können, sollen derartige Dokumente den Alltag bei der Aufforderung nach Ausweispapieren erleichtern. In der kommunistischen Volksrepublik Polen waren sie jedoch hauptsächlich für polnische Staatsbürger*innen und nicht für Ausländer*innen vorgesehen.

Anna Trachtenherz, die Inhaberin dieses Dokuments, wurde 1946 in Polen geboren und verbrachte dort bis dahin ihr ganzes Leben. Das Polnische war ihre Muttersprache, ihre Eltern waren polnische Staatsbürger*innen, der Vater ‒ ein Arzt, die Mutter ‒ eine angesehene Beamtin im Gesundheitsministerium. Noch einige Wochen vor der Ausreise besaßen Anna und ihre Eltern polnische Personalausweise. Als sie aber beschließen zu emigrieren, forderten die Beamt*innen des Passamtes sie auf, zusammen mit dem Antrag auf eine Ausreisegenehmigung „eine Erlaubnis für den Wechsel der Staatsbürgerschaft“ zu beantragen. Ohne dieses Dokument wäre ihr Ausreiseantrag nicht bearbeitet worden.

Die Familie beschloss, Polen zu verlassen, weil sie die Schikanen und Diskriminierungen nicht mehr ertragen konnten und weil sie sich Sorgen um die Zukunft machten, insbesondere um die ihrer Tochter. Für polnische Behörden und viele Mitbürger*innen waren sie mit einem ernsthaften Makel behaftet: Sie waren jüdisch. Als im März 1968 die polnischen Studierenden auf die Straßen gingen, um gegen Zensur und Brutalität der Polizei zu protestieren, antworteten die kommunistischen Machthaber*innen mit Repressionen und einer massiven propagandistischen Kampagne, in der behauptet wurde, hinter dem studentischen Aufruhr stehe eine „zionistische Verschwörung“. In hunderten Presseartikeln, Radio- und Fernsehbeiträgen, in tausenden Treffen und Massenkundgebungen, an denen Millionen von Menschen teilnahmen, wurden die vermeintlichen Zionist*innen beschuldigt, arglistige Tätigkeiten gegen Polen zu betreiben, im Dienste der amerikanischen Imperialist*innen zu stehen und Verbündete der westdeutschen Revisionist*innen zu sein, die Polen Breslau und Stettin wegnehmen wollten. Der Begriff Zionismus war lediglich ein Feigenblatt für die antisemitische Hetze. Jeder Mensch mit jüdischer Herkunft konnte angeklagt und so um seine Stellung gebracht, aus der Partei ausgeschlossen, von der Arbeit entlassen oder der Hochschule verwiesen werden. Die Machthaber*innen – von dem Chef der kommunistischen Partei oder dem Premier der Regierung bis zu lokalen Beamt*innen und Offizier*innen des Sicherheitsdienstes ‒ „ermutigten“ die Jüdinnen*Juden zur Ausreise. Letztlich verließen Polen nahezu 15.000 Menschen: polnische Jüdinnen*Juden und Pol*innen jüdischer Herkunft.[1] Einer von ihnen sagte später: „Ich ging weg aus Polen, denn es war das einzige Land, in dem ich kein Pole sein durfte.“[2]

Die jüdische Gemeinschaft im Polen der 1960er Jahre war klein und zum größten Teil assimiliert. Die Hölle des Zweiten Weltkrieges hatten lediglich 10 Prozent von der 3,4 Millionen zählenden jüdischen Vorkriegsgemeinschaft überlebt. Von denen, die nach dem Krieg nach Polen zurückgekehrt waren oder ihre Verstecke verlassen hatten, emigrierten knapp 90 Prozent im Zuge von drei Ausreisewellen und nach 1960 blieben nur noch rund 30.000 Jüdinnen*Juden. Die junge Generation sprach kein Jiddisch mehr, war meistens areligiös und hatte oft nur eine blasse Vorstellung von der jüdischen Kultur. Auch Anna Trachtenherz notiert in ihren Erinnerungen: „Wir hatten keine Verbindungen zur jüdischen Tradition, zur Kultur … Wir waren eine vollkommen assimilierte Familie. Ich ging niemals in die Synagoge. Ich war nie bei der TSKŻ (Sozial-Kulturelle Gesellschaft der Juden in Polen).“[3] Obwohl die Familie wegen vermeintlichen Zionismus verfolgt wurde, emigrierte sie nicht nach Israel, sondern nach Schweden. Von der jüdischen Ausreisewelle der Jahre 1968 bis 1969 ging nur jede vierte Person nach Israel. Eine größere Gruppe ließ sich im nahen Schweden und in Dänemark nieder, die übrigen zerstreuten sich über viele Länder.

Diejenigen, die infolge der „antisemitischen Kampagne“ beschlossen, Polen zu verlassen, mussten im Antrag auf Ausreisegenehmigung ihre jüdische Identität deklarieren, die Absicht, nach Israel emigrieren zu wollen (auch wenn sie das gar nicht vorhatten) sowie den Willen bestätigen, ihre Staatsbürgerschaft zu wechseln. Die Machthabenden entzogen ihnen die polnische Staatbürgerschaft, um ihre Rückkehr auszuschließen und sich der Verpflichtungen gegenüber den Emigrant*innen zu entledigen. Aus diesem Grund stellte man den Auszureisenden keine richtigen Pässe aus, sondern eben jene „Reisedokumente“, die zugleich als ein „Einwegticket“ dienten. Diese Praxis wurde nicht nur bei den Auszureisenden nach Israel angewandt, sondern sie betraf auch ‒ und dies in größerer Dimension ‒ diejenigen, die nach Deutschland ausreisen wollten. Mit „Reisedokumenten“ verließen einige hunderttausend Menschen aus Schlesien, Pommern und den Masuren das Land. In der Bundesrepublik bekamen sie den Aussiedlerstatus und die deutsche Staatsbürgerschaft. Auch die jüdischen Migrant*innen nach Israel erhielten aufgrund des sogenannten Rückkehrrechts die israelische Staatsbürgerschaft.

Bereits im Zuge einer großen Ausreisewelle der Jahre 1956 bis 1959 als mehr als 300.000 Menschen Polen verließen, vereinfachten die kommunistischen Behörden das Verfahren: Mit einer Genehmigung nach Israel oder Deutschland auszureisen, ging automatisch die Erlaubnis einher, die Staatsbürgerschaft zu wechseln. Im demokratischen Polen nach 1989 wurden diese Vorschriften durch Gerichte angefochten und für gesetzwidrig erklärt.[4]


Verweise:

[1] Vgl. Dariusz Stola, Kampania antysyjonistyczna w Polsce 1967‒1968, Warszawa 2000.

[2] Krystyna Piotrowska, Videoinstallation „Dokumenty podróży” [Reisedokumente], gezeigt 2008 in der Zachęta-Galerie in Warschau.

[3] „Pyza wędrowała. Z Anną Trachtenherz rozmawia Przemysław Kaniecki”, in: Midrasz, Nr. 17, 2019.

[4]Vgl. Dariusz Stola, Kraj bez wyjścia? Migracje z Polski 1949‒1989, Warszawa 2010.

Quellen:

Dariusz Stola, Kampania antysyjonistyczna w Polsce 1967‒1968, Warszawa 2000.

Dariusz Stola, Kraj bez wyjścia? Migracje z Polski 1949‒1989, Warszawa 2010.

Foto: Privat

 

 

Dariusz Stola

Dariusz Stola ist Historiker und Professor am Institut für politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Er hat zahlreiche Publikationen über die Geschichte der internationalen Migration, die polnisch-jüdischen Beziehungen und das kommunistische Regime veröffentlicht. Von 2014 bis 2019 war er Direktor des Polin-Museums für die Geschichte der polnischen Juden in Warschau.