„Die gegenwärtige Zeit ist schwanger von der Zukunft“ – Blicke zurück und Blicke nach vorn

Lektüretipps für lange Winterabende von Dr. Matthias Miller | 18. Dezember 2023

Man kann sich ja nicht früh genug auf die Suche nach Weihnachtsgeschenken begeben, weshalb mich neulich – mit dem bekannten Leibniz-Zitat im Kopf – mein Weg in eine Buchhandlung führte. Es war der Samstag nach dem aus den USA herübergeschwappten Black Friday. Interessant, dachte ich: alle Läden bieten satte Rabatte, aber die Buchhandlung, die das wegen der Buchpreisbindung in Deutschland nicht kann, war dennoch proppenvoll, fast voller als andere Geschäfte. Nachdem ich mein Einkaufskörbchen mit Romanen bereits gut gefüllt hatte, landete ich in der Abteilung Geschichte. Und dort traute ich meinen Augen nicht: lauter dicke und dickste Bücher, unter 1.000 Seiten scheint es nicht mehr zu gehen.

Als erstes fiel mir Christopher Clark auf, sein neuestes Buch „Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt“ (DVA 2023) umfasst 1.168 Seiten und wird sicherlich für viele Jahre das Thema erschöpfend behandelt haben. Florian Felix Weyh bezeichnete Clark am 21. Oktober 2023 im Deutschlandfunk allerdings als „von Kürzungsfurcht geplagt“ und auch andere Rezensent*innen monierten die Materialfülle und Parallelität zahlreicher, oft als Nebenthemen empfundener Passagen, die das Buch unübersichtlich machten. Wer Clark als Autor kennt, weiß jedoch, dass er spannend erzählen kann und seine Leser*innen durch Detailkenntnis zu fesseln versteht.

Direkt daneben der nächste „Backstein“: „Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931–1945“ (Rowohlt 2023) von Richard Overy. Bücher über den Zweiten Weltkrieg gibt es ja viele, die von Overy behandelte Zeitspanne jedoch ist ungewöhnlich, nimmt er doch mit dem Einfall Japans in die Mandschurei 1931 den weltumspannenden Aspekt des Zweiten Weltkrieges stärker als andere vor ihm in den Blick. Und so ist sein Werk eher eine Weltgeschichte des Imperialismus als das reine Erzählen der Kriegsereignisse in Europa. Das Werk umfasst 1.520 Seiten und wiegt 1,7 kg, eignet sich also nicht nur wegen seines Inhaltes eher schlecht als Bettlektüre.

Wie eine Fortsetzung von Overy liest sich Frank Trentmanns im wahrsten Sinne des Wortes gewichtiges Werk „Aufbruch des Gewissens. Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute“ (S. Fischer 2023). Mit seinen 1.036 Seiten fast schon unter dem Limit, handelt es, von Stalingrad als Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges ausgehend, von der Deutschen Geschichte bis in die Gegenwart. Dabei geht es nicht um eine bloße Aufzählung von Daten und Fakten, sondern das Buch entwirft von der Shoah über das Kriegsende, das Wirtschaftswunder in Westdeutschland, die 68er und die Wiedervereinigung hinweg eine Mentalitätsgeschichte der Deutschen, bei der stets die Frage nach Schuld, Moral und Erinnerung im Vordergrund stand. Dass Deutschland Einwanderungsland wurde, war lange politisch nicht anerkannt, dass den Opfern des Holocaust bis in die 60er Jahre hinein eine Anerkennung versagt war ebenso. Nach der Wiedervereinigung stand in Deutschland der Umgang mit autoritären Staaten oder der ambivalente moralische Kompass im Verhältnis zur Umweltbewegung im Vordergrund, von Migrationsdebatten in jüngster Vergangenheit ganz zu schweigen.

Und dann trug noch „Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit“ von Simon Sebag Montefiore (Klett-Cotta 2023) dazu bei, dass sich der Büchertisch fast durchbog. Mit 1.536 Seiten und gut 2,1 kg Gewicht gehört der Band sicherlich nicht zur leichten Literatur, allein schon deshalb, weil zu seiner Übertragung aus dem Englischen gleich sechs Übersetzer*innen nötig waren. Der Bogen der Menschheitsgeschichte, der als Familiengeschichte(n) erzählt wird, spannt sich von den Nubiern über die Osmanen, die Habsburger, die Romanows bis hin zu den Trumps und Putins unserer Tage. Ob das geschichtswissenschaftlich alles relevant und richtig ist, will ich nicht beurteilen, dass sich irgendwann Netflix aus den Familiengeschichten bedienen wird, scheint jedoch vorprogrammiert.

Nachdem von den 5.260 Seiten bzw. 6,5 kg Büchern der Boden meines Einkaufskörbchens schon fast durchgebrochen war, dachte ich: genug Geschichte, jetzt mal in die Zukunft! Zunächst blieb ich bei „2084. Das Ende der Welt“ von Boualem Sansal (Merlin Verlag 2016) hängen. In Anlehnung an Orwells Roman „1984“ beschreibt der Autor einen auf Religion beruhenden totalitären Staat, der die Vergangenheit leugnet. Individualisierung und gutgläubiges Vertrauen in das System sind die Faktoren, die das System erhalten. Ungläubige und Abtrünnige werden in ein Ghetto gesperrt, ein düsteres Szenario, das aktuell wieder Chancen gewinnt, Wirklichkeit zu werden.

Vom Altmeister des illustrierten Geschichtsbuches David Macaulay (die älteren erinnern sich an „Sie bauten eine Kathedrale“ aus dem Jahr 1973) stammt die Grafik-Novelle „Das Motel der Mysterien“ (Nünnerich-Asmus Verlag 2018). Nach einer Katastrophe im Jahr 2018 sind die USA untergegangen und ihre Bauten und Überreste liegen unter einer dicken Deckschicht begraben. Ein Archäologe des 5. Jahrtausends entdeckt eine versteckte Grabkammer, in der zwei Personen offenbar kultisch begraben wurden. Die eine liegt auf einer „zeremoniellen Liege“, die andere in der Hauptgrabkammer in einem offenen Sarkophag aus Porzellan. Mit einem Augenzwinkern erzählt Macaulay von den Interpretationen der Funde und der Deutung der Lebenswelt im 21. Jahrhundert durch einen Archäologen im Jahr 4018.

In der Kiste antiquarischer Bücher kurz vor dem Ausgang entdeckte ich noch zwei Klassiker: Ganz anders als 2084 von Sansal, weil in einer anderen Situation verfasst, liest sich „Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume“ von Louis-Sébastien Mercier. Der Roman erschien 1772 während der Zeit des Absolutismus in Frankreich (auf Deutsch Suhrkamp 1989). Der Protagonist schläft 1769 ein und erwacht im Jahr 2440 in Paris, das sich nach einer friedlichen Revolution zu einem sozialen und vernünftigen Gemeinwesen entwickelt hat. Steuern sind ebenso abgeschafft wie der Tabak, beides heute leider nicht Realität. Aber wer weiß? Vielleicht 2440.

Geradezu visionär auf dem Gebiet der Futurologie bewegte sich Ri Tokko, mit bürgerlichem Namen Ludwig Dexheimer, in seinem Buch „Das Automatenzeitalter. Ein prognostischer Roman“ (Amalthea-Verlag 1931, Neuausgabe Shayol 2004). Auf 900 Seiten und damit schon fast an die oben beschriebene Geschichtsliteratur heranreichend, beschreibt Dexheimer in einem Blick auf das Jahr 2500 eine Fülle detailliert ausgeführter Voraussagen, so zum Beispiel eine nach ökologischen Gesichtspunkten orientierte gesellschaftliche Infrastruktur, die Beeinflussung des Wetters durch die Emission von Kohlendioxid, Schnellbahnverbindungen über Kontinente hinweg sowie eine Gesellschaft, der es ermöglicht ist, individuell auf einen Bestand von Filmen und Büchern auf Mikrofilm zuzugreifen. Das Klonen von Menschen wird ebenso vorhergesagt wie der Einsatz von Hormonpräparaten zur Schwangerschaftsverhütung. Dies wirkt für die Zeit um 1930 sehr prognostisch und gleichzeitig doch erschreckend realistisch. Das Buch wurde zum 31. Dezember 1938 von der nationalsozialistischen Reichsschrifttumskammer wegen pazifistischer Ausrichtung in die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ aufgenommen und damit faktisch verboten. Wer hiervon kein Exemplar antiquarisch ergattern kann, kann seit neuestem eines in der DHM-Bibliothek im Lesesaal einsehen.

Wem das alles zu viel Geschichte und Zukunft ist, dem sei „Unsereins“ von Inger-Maria Mahlke (Rowohlt 2023) empfohlen, in deren Mittelpunkt die Familie Lindhorst in Lübeck steht. Das Bild der Lübecker Gesellschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und die Verästelungen der Lindhorsts ähneln nicht zufällig einer anderen bekannten Lübecker Familie, über die ein großer Sohn der Stadt 1901 einen zweibändigen Roman geschrieben hat, für den er 1929 den Literaturnobelpreis erhielt. Ob Mahlke diese Ehrung irgendwann zuteilwerden wird, bleibt abzuwarten.

 

Dr. Matthias Miller

Dr. Matthias Miller ist Leiter der Bibliothek und Leiter der Sammlung „Handschriften – Alte und wertvolle Drucke” des Deutschen Historischen Museums.