Um jeden Preis

Die 21. Fußball-Weltmeisterschaft mit insgesamt 64 Spielen mit 32 Teams endet am 15. Juli 2018. Detlev Claussen nimmt sie zum Anlass, einen Blick auf die Geschichte des Fußballs und seine zunehmende Kommerzialisierung zu werfen und macht sich Sorgen um die Zukunft des beliebtesten Sports der Welt.

Die Klagen über die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs werden immer lauter. Spätestens seit am Beginn dieser Saison der brasilianische Stürmerstar Neymar für sagenhafte 222 Millionen Euro Ablöse nach durchaus erfolgreicher Zeit den spanischen Meisterclub CF Barcelona verließ, fragte sich die Fußballwelt, welchen Sinn solche Vereinswechsel machen. Bei seinem neuen Club PSG verdient Neymar 3,6 Millionen Euro monatlich. Das Ziel der Pariser aber, die prestigeträchtige Champions League zu gewinnen, wurde schon im Achtelfinale gegen Real Madrid verfehlt. Neymar erholt sich inzwischen von einer schweren Verletzung im Süden Rios. Angeblich spielt er mit dem Gedanken, Paris in Richtung Madrid schon wieder verlassen zu wollen. Mit Barcelona streitet er sich noch über eine vereinbarte millionenschwere Treueprämie. Aber nicht nur auf das Geld kommt es ihm an, sondern er möchte unbedingt, so wird behauptet, Weltfußballer werden – ein eigentlich sinnloser Pokal in einem Mannschaftssport, der aber den Träger zu einer alles überragenden Werbeikone machen kann. In Barcelona glaubte Neymar, im Schatten des mehrfachen Weltfußballers Messi zu stehen. Ob er in Madrid mit dem überaus geltungssüchtigen Weltstar Christiano Ronaldo glücklicher würde, steht in den Sternen.

Neymars Wechselgeschichte sprengt jede sportliche und ökonomische Rationalität. Oder doch nicht? Für die Eigentümer von PSG, eine qatarische Kapitalgesellschaft, spielt Geld keine Rolle. Der superreiche kleine Ölstaat zwischen Saudi-Arabien und dem Iran plant eine Zukunft nach dem Öl. Man möchte ein Zentrum der globalen Freizeit- und Unterhaltungsindustrie werden, als dessen treibende Wachstumskraft die Manager den Sport, und besonders den Fußball, ausgemacht haben. Aus diesem Grund haben sich die Scheiche auch die Austragung der Fußballweltmeisterschaft 2022 unter den fragwürdigsten Umständen besorgt. Der traditionelle Termin im Sommer muss extra verlegt werden, weil selbst bei modernster Kühltechnik die Stadien in der Wüstenhitze zu heiß geworden wären. Allein der Stadionbau verschlingt eine Milliardensumme; für den Normalgebrauch sind die überdimensionierten Gebäude überflüssig. Trotz dokumentierter Sklavenarbeit wachsen die Kosten ins Unermessliche. Den Großorganisationen, die am Fußball verdienen, die FIFA, Bauindustrie, Medien- und Sportartikelkonzerne ist der sportliche Wert einer WM in Qatar egal. Für die WM 2026 wird eine Erhöhung der Teilnehmerzahl von 32 auf 48 Mannschaften diskutiert. Inzwischen plant FIFA-Präsident, ab 2021 eine Klub-WM mit 24 Mannschaften an eine Investorengruppe für 25 Milliarden Euro zu verkaufen. Die Eroberung neuer Zuschauergruppen mag ökonomisch vielversprechend sein. Sportlich droht schon jetzt eine Überbeanspruchung von Spielern und Fans.

Geschichte einer Kommerzialisierung

Der moderne Fußball begann vor 150 Jahren in England, als in den elitären Bildungsinstitutionen der Aristokratie beliebte Mannschaftssportarten kodifiziert wurden. Die künftigen Gentlemen nahmen den Ball nicht mehr in die Hand, sondern liebten es mit dem Ball am Fuß zu dribbeln. Foulspiel war verpönt, Schiedsrichter brauchte man nicht. Aber trotzdem war Geld im Spiel: wie in anderen englischen Sportarten auch begleitete die Wette das Fußballspiel. Die Gentlemen besaßen Geld; die Kunst bestand darin, es auszugeben. Doch auch die Wette hat ihre eigene Rationalität. Spezialisierung, bessere körperliche Verfassung der Mannschaften und Informationen durch die Sportpresse erhöhten die Gewinnchancen. Neue Leute aus den middle classes drängten in den Fußball. Die Gentlemen wunderten sich über die neue Mentalität to win at any cost. Die ehrgeizigen Bürger scheuten sich nicht, Mitspieler aus den unteren Schichten zu rekrutieren, ihnen besondere Anstellungen zu geben und unter der Hand Geld zu zahlen oder wertvolle Preise zu schenken. Das neue Spiel lockte Zuschauer an; es lohnte sich Spielfelder einzuzäunen und Tribünen zu bauen. Es entstanden Fußballclubs, die wie Aktiengesellschaften organisiert waren. Diese Kommerzialisierung führte seiner Logik nach zum Professionalismus, der um 1890 sich in England sich durchgesetzt hatte. Die Gentlemen wollten aber die soziale Kontrolle nicht aufgeben; die Football Association (FA) blieb noch fast hundert Jahre in der Hand der Honoratioren. Ähnliches geschah auf dem europäischen Kontinent. Nationale und internationale Verbände blieben in der Hand von meist wohlhabenden Amateuren, die von der Entwicklung des Profifußballs überrollt wurden.

Besonders lange hielt sich in Deutschland die Amateurideologie in der Praxis des Vereinsfußballs. Eine Rhetorik des Antikommerzes wurde seit der Weimarer Zeit im Deutschen Fußball Bund (DFB) gepflegt. Begünstigt durch das Steuerrecht wollte man die Gemeinnützigkeit bewahren; der bürgerliche Universalverein, in dem nicht nur Fußball gespielt wurde, galt lange als geselliger Treff, in dem die Klassenhierarchie gewahrt blieb. Es blühte allerdings ein Scheinamateurismus: Zigarettenläden, Toto-Lottoannahmestellen, Tankstellen, Scheinanstellungen ernährten Spieler, die sich mehr auf den Fußball konzentrieren konnten. Auf Betreiben Bundestrainer Sepp Herbergers, der in seiner Jugend selbst wegen Verletzung des Amateurstatuts gesperrt worden war, wurde eine nationale Liga gegründet, die den Vereinen eine Konkurrenzfähigkeit mit den Profiligen Italiens, Englands und Spaniens erlauben sollte. Aber selbst bei Einführung der Bundesliga 1963 konnte sich der DFB nicht zu einem vollen Professionalismus durchringen. Die ersten Skandale folgten auf dem Fuße. Illegale Handgelder und Spielerbestechungen führten zu Zwangsausschlüssen und drakonischen Bestrafungen, die aber im Vorfeld der WM in Deutschland 1974 doch gemildert wurden.

Eldorado Premier League

Noch Mitte der sechziger Jahre verdienten die Durchschnittsspieler in Europa nicht mehr als Facharbeiter. Im Vorfeld der WM 1966 erkämpften die englischen Spielergewerkschaften eine Freigabe der Gehälter. Durch die Errichtung des Olympiastadions bekam Bayern München eine moderne Spielstätte, die ein Massenpublikum bescherte mit konstant hohen Zuschauereinnahmen. Die Vermarktung der Vereine, Banden- und Trikotwerbung, sorgen für zusätzliche Einnahmen. Die Fernsehrechte stiegen bis 1980 gerade einmal auf zehn Millionen Mark pro Saison. Im europäischen Ausland gab es für deutsche Spitzenspieler um 1970 erheblich mehr zu verdienen. In Spanien begünstigt das Steuerrecht bis heute ausländische Spieler. Steuerbetrügereien sind trotzdem notorisch. Wie das Buch Football Leaks von Rafael Buschmann und Michael Wulzinger eindrücklich zeigt, gehört der Steuerbetrug heute zu einem integralen Bestandteil der Fußballeinkommen. Bildrechte, Werbung, Sponsoring – die Verträge vieler Spieler und Vereine weisen in die Steuerparadiese. Der lockere Umgang der englischen Finanzpolitik mit Steuerflucht macht die Premier League zu einem Eldorado – eine Liga, über die der inzwischen wegen Korruption zurückgetretene Michel Platini einmal lästerte „ohne englische Spieler, ohne englische Trainer, ohne englische Eigentümer“.

Die Premier League begann ihren Aufstieg in der dunkelsten Phase des englischen Fußballs, als ihre Vereine von den internationalen Spielen nach der Brüsseler Zuschauerkatastrophe 1985 für 5 bzw. 7 Jahre von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen waren. 1989 starben bei einem Chaos auf den Tribünen in Sheffield 96 Menschen. England war bereit für radikale Maßnahmen. Private Fernsehgesellschaften gaben viel Geld, um sich den Sportmarkt zu sichern. Neue Stadien mit ausschließlich Sitzplätzen wurden gebaut, die ein zahlungskräftiges Publikum anziehen sollten. Die für frisches Kapital offenen Clubstrukturen ermöglichten den Einstieg von neuen Investoren; für Oligarchen aus dem zusammenbrechenden Ostblock und Schwarzgeldwäsche ideal. Der englische Fußball suchte neue Märkte, vor allem in Asien, die mit dem TV erreicht werden konnten. Die weltweite Präsenz des PL-Fußballs schaffte den englischen Vereinen auch beim Merchandising einen Vorsprung. Manchester United wurde für den US-amerikanischen Sportunternehmer Glazer so attraktiv, dass er 2005 die Mehrheit auf Pump erwarb. Noch heute muss ManU jährlich 80 Millionen Pfund tilgen. Die Eintrittspreise wurden massiv erhöht, die traditionellen Fans von den Plätzen verdrängt. Kompensiert wird der Verlust durch die massenhaft einfliegenden asiatischen Fans, die in Shopping Malls, Hotels und Restaurants Geld ausgeben. Dieser Fußballtourismus spült Geld in die Kassen von ManU. Als Wirtschaftsunternehmen ist ManU der wertvollste Club der Welt, noch vor Madrid, Barcelona und Bayern München. Sportlich wird ManU zurzeit übertroffen vom lange Zeit bedeutungslosen Lokalrivalen Manchester City. Die Vereinigten Arabischen Emirate ließen es sich über eine halbe Milliarde kosten, um dem Meistertrainer Pep Guardiola eine konkurrenzfähige Mannschaft auf die Beine zu stellen. Nicht nur die Premier League soll gewonnen werden, sondern auch die sportlich noch prestigeträchtigere Champions League. Der in Paris spielende Konkurrent aus Qatar soll erblassen – koste es, was es wolle.

Mehr Wettbewerbe für mehr Werbeeinnahmen

Parallel zur globalisierten Welt der Premier League ist die Champions League entstanden, die ab ovo internationaler, aber auch weniger offen für freie Kapitalinvestitionen ist – daher umso anfälliger für Korruption. Als Veranstalter tritt die europäische Fußballunion UEFA auf, die aber ebenso wie der Weltverband FIFA seit den 70er Jahren auf das große Geld setzt. Den Durchbruch schaffte die Vermarktung der Großereignisse für Fernsehrechte und Sportartikelproduzenten. Die Werbeerfolge zogen dann Weltfirmen wie Coca Cola und Visa Card an. Nur eine beschränkte Zahl von Werbepartnern garantiert die ganz großen Einnahmen. Dafür muss aber die Zahl der Wettbewerbe und Spiele ständig ausgeweitet werden. Gruppen von smarten Geschäftsleuten schafften im Bündnis mit geldhungrigen Funktionären, den Fußball als ewig sprudelnden Geldquell zu erschließen. Die Namen von Havelange, Sepp Blatter und auch Platini stehen für die Mischung von sagenhaften Umsätzen und Korruption. Keine große Liga, die nicht schon von Skandalen geschüttelt worden wäre. Selbst das in Deutschland verherrlichte „Sommermärchen“ der WM 2006 ist nicht ohne Korruption zustande gekommen. Ohne ein bislang unaufgeklärtes Geflecht von FIFA, DFB, Franz Beckenbauer und Leo Kirch wäre das Spektakel nicht möglich geworden.

Das Verhältnis von Fußball und Geld hat sich umgekehrt. Früher versuchte der Fußball Geld zu finden, um sich zu finanzieren, heute suchen sich Kapitalgruppen den Fußball, um ihn ökonomisch auszupressen. Alle großen europäischen Ligen haben ihre Probleme. Die durch die Champions League immer reicher werdenden großen Vereine dominieren die nationalen Wettbewerbe. Allzu viele Spiele drohen langweilig zu werden; schwächere Mannschaften versuchen sich mit sturen Defensivtaktiken zu behaupten. Die Vereine sind weniger von Zuschauereinkünften abhängig als je zuvor. Hohe Preise sperren die traditionellen Fans aus. Das raubt den Stadien die Atmosphäre. Die Medienkonzerne und Hedgefonds setzen auf elektronisch vermitteltes, individuelles pay per view. Die Spieltage werden zersplittert, um mehr Fernsehübertragungen zu ermöglichen. Ein Überangebot an Spielen und die Erschöpfung der Spieler gehen Hand in Hand. Die Ökonomie des Fußballs ist vergiftet. Immer mehr Geld aus undurchsichtigen Quellen wird investiert. Eine Corona von Finanzjongleuren, Spielervermittlern und Rechtehändlern, oft an den Steuerbehörden vorbei, verschiebt ungeheure Summen zwischen Vereinen, Spielern, Funktionären und Sponsoren. Die in der UEFA eingeführten Financial Fair Play Regeln funktionieren nicht, weil die Verbände von politischen und ökonomischen Interessengruppen manipuliert werden. Um den spannenden Sport zu retten, bedürfte es dringend einer glaubwürdigen Regulierung – national wie international. Aber wenn es schon nicht gelingt, die Finanzmärkte zu zähmen, von wem kann man erwarten, die Finanzverhältnisse im Fußball zu regulieren? Auch wer nicht schwarzmalen möchte, macht sich Sorgen um die Zukunft des beliebtesten Spiels der Welt.

Detlev Claussen

Detlev Claussen, geb. 1948 in Hamburg; Studium von Soziologie, Philosophie, Politologie und Germanistik in Frankfurt am Main von 1966 bis 1971, seit 2011 em. Prof. für Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie an der Universität Hannover. Veröffentlichungen: „Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus“, S. Fischer 1987, 4. erweiterte Auflage 2005; „Vom Judenhass zum Antisemitismus“ Luchterhand 1987; „Mit steinernem Herzen. Politische Essays“, Wassmann 1988; „Aspekte der Alltagsreligion“, Verlag Neue Kritik 2000, „Was heißt Rassismus?“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994; „Theodor W. Adorno – ein letztes Genie“, S. Fischer 2003; „Béla Guttmann – Weltgeschichte des Fußballs in einer Person“, Berenberg 2006