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Das Aufkommen des neuen, unabhängigen – das heißt außerhalb staatlich kontrollierter Kanäle von Produktion und Distribution operierenden – chinesischen Dokumentarfilms lässt sich zwischen der Niederschlagung der Tian'anmen-Proteste 1989 und Deng Xiaopings Reise durch Südchina 1992 verorten, infolge derer sich die Kommunistische Partei endgültig zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ bekannte und de facto ein kapitalistisches Entwicklungsmodell zum Zukunftshorizont des staatlich forcierten Transformationsprozesses der Volksrepublik wurde.

Die fundamentalen Umbrüche und Kontradiktionen im Nachgang dieser zwei Ereignisse – wirtschaftlicher Liberalismus einerseits und fortgesetzter politischer Autoritarismus andererseits – stellten einen zentralen Impetus für die Herausbildung neuer Formen des Dokumentarischen in China dar und sind zugleich grundlegender thematischer Rahmen der Strömung. So behandeln ihr zugerechnete Werke überwiegend Schattenseiten der zweiten chinesischen Moderne und öffnen sich mit mikrogeschichtlicher Affinität dem Alltag jener Bürger, deren Schicksale in staatsoffiziellen Medienzusammenhängen übergangen oder systematisch maskiert werden.

Auch ästhetisch und produktionspragmatisch lassen sich Absetzbewegungen zu vorgängigen Konventionen dokumentarischen Arbeitens konstatieren. Existierten non-fiktionale Formate bis zu den 1990er-Jahren in der Volksrepublik vor allem als drehbuchbasierte Studioproduktionen, die ostentativ auf eine ideologische Erziehung des Publikums zielten, wurden mit der neuen Dokumentarbewegung ergebnisoffene Vor-Ort-Betrachtungen und mit diesen korrelierte Stilistiken eines unmittelbar-rohen Realismus zur Maxime.

Da sich der Zugang zu Filmequipment in den Anfangstagen der Strömung nach wie vor voraussetzungsreich gestaltete und vor allem jenen Regisseuren oblag, die bereits über Verbindungen zum staatlichen Fernsehsystem verfügten, war der intendierte Aufbruch etablierter Produktionszusammenhänge zunächst jedoch beschränkt – was sich unter anderem daran zeigt, dass erst Ende der 1990er-Jahre erste, vereinzelte unabhängige Dokumentarfilme von Regisseurinnen entstanden.

Die Verbreitung leicht bedienbarer und kostengünstiger digitaler Kameratechnik führte in diesem Zusammenhang zu einer entscheidenden Pluralisierung und versetzte zuvor von filmischer Praxis weitestgehend Ausgeschlossene in die Lage, sich an der Bewegtbildproduktion zu beteiligen. Entsprechend lässt sich in China ab der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre ein Anstieg unabhängiger dokumentarischer Arbeiten von Frauen beobachten. Nach wie vor stellen Filmemacherinnen innerhalb der Strömung allerdings eine Minderheit dar und ihre Arbeiten sind insbesondere im Ausland abseits vereinzelter Festival-Screenings kaum sichtbar.

Die Werkschau Outcry and Whisper stellt ausführlich das unabhängige dokumentarische Filmschaffen chinesischer Regisseurinnen vor. Sie versammelt 16 Arbeiten, die überwiegend zum ersten Mal in Deutschland zu sehen sind und unter Einsatz digitaler Filmtechnologie bis in die Postproduktion als Ein-Frau-Unternehmungen realisiert wurden. Die von Christian Lenz kuratierte Auswahl nimmt dabei eine spannende Perspektiverweiterung auf zeitgenössisches Dokumentarfilmschaffen aus China vor: In den Blick gerät mit diesen ungewöhnlichen Werken ein breites Spektrum an Rhetoriken des Inszenierens und Aktualisierens sowie eine Themenvielfalt, die von unmittelbaren Gegenwartsprotokollen bis zu spannungsgeladenen Auseinandersetzungen mit der Zeit des Maoismus reicht.

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