Rosmarie Beier
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Deutsch-deutsche Befindlichkeiten -
Die Besucherbücher der Ausstellung "Lebensstationen in Deutschland" als Spiegel der mentalen Lage der Nation
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3. Ausstellung und erinnerte Wirklichkeit: Das 'eigentliche' Leben war ganz anders . . .

Die Besucher der Ausstellung wurden über die Objekte und die Gestaltung unvermittelt konfrontiert mit dem kaum vergangenen Ost-Alltag bzw. dem immer noch aktuellen West-Alltag. Für die Bürger der neuen Länder war dies sicher provokanter als für westliche Besucher. Denn das Gefühl, die eigene Gegenwart plötzlich verloren zu haben, die eigene Biographie nur noch als historische sehen zu können, wurde dadurch evident, daß nun der eigene Alltag plötzlich im Museum, als Gegenstand der Geschichtsdarstellung erschien: "DDR - wir erinnern uns daran und fragen uns, warum wohl jetzt, nach so kurzer Zeit schon eine Ausstellung von so großem Stellenwert über unsere Jugend existiert." (junge w, Berlin-Mitte) Aber das ist es ja gerade: Das Museum führt vor Augen, daß das gewohnte Leben unwiderruflich dahin ist.

Wird aber akzeptiert, daß es sich beim DDR-Alltag um Geschichte handelt, so trägt die Wiederbegegnung mit der eigenen Vergangenheit für die ehemaligen DDR-Bürger oft sentimentale Züge. Die gezeigten Gegenstände sind dann Anlaß, Stimmungen zu revozieren. Eine 22jährige Studentin aus Berlin-Prenzlauer Berg schreibt: "Ja, die Brottasche mit Pitti-Platsch-Aufkleber kennen wir noch (. ..): Kann sich ein Wessi vorstellen, daß wir Ossis lachen, wenn wir an Pionier-, FDJ-, GST (Gesellschaft für Sport und Technik-) Ausweisen etc. vorbeigehen? Wer nahm das alles ernst, wenn schon wir als heutige Studenten, die ja nun mal als Vorbild und Klassenbeste ganz vorn standen, dies nicht taten?" Ein "wir" wird hier ins Feld geführt, das immer noch die alte sozialistische Gemeinschaft meint, diese dabei aber um den offiziellen, staatspolitischen Part kürzt und den informellen Aspekt der Beziehungen in der Gemeinschaft, die Freude, die Späße, das Glück herausstellt.


Durchgängig ist zu beobachten, daß so in Hinblick auf die eigene Erinnerung verfahren wird. Die Macht der Gegenstände, des Alltags in staatlichen Institutionen mit seinen Reglements und Ritualen, wie sie die Ausstellung einzufangen versucht, wird gebrochen auf der Basis des Erinnerns von Ereignissen und Stimmungen: "Ich melde mich hier als 'krippengeschädigtes' DDR-Kind, das durch Kinderkrippe, Kindergarten, POS (Polytechnische Oberschule), EOS (Erweiterte Oberschule) und Studium ging - so wie es hier in dieser Ausstellung steht, gehen mußte. Ich kann nicht sagen, daß mir das alles geschadet hat, da ich einfach zu schöne Erinnerungen an meine Kindheit habe." (5: 18.5.93, w, 22 J., Ostdeutschland)

In diesem Sinne war für die Besucher die Ausstellungsgestaltung sehr viel mehr als nur ein äußerer Rahmen. Sie betrachteten sie in den meisten Fällen als unmittelbaren Spiegel des geradlinigen, verordneten Lebensweges in der DDR - ein Spiegel, in dem auch sie und ihre Biographien gespiegelt wurden. Diese Darstellung war für manche Besucher aus der ehemaligen DDR nur schwer erträglich: "Es gab auch Freude und Lachen in der DDR!", so und ähnlich lauten einige Einträge: "Das Leben in der DDR war bunter! Es war aufmüpfiger! Es war unregelmäßiger! Es gab genug Leute, die gegen den Gleichlauf (-schritt) angingen!" (9: 22./23.5.93, m?, Ostdeutschland)


Das eigentliche, wahre Leben, die erinnerten Ereignisse seien doch ganz anders gewesen als der in der Ausstellung vorgeführte strikte, starre Lebenslauf - so der Tenor etlicher Niederschriften. Das ist natürlich insoweit richtig, als die Ausstellung ja auch nicht das individuelle alltägliche Leben darstellen wollte, sondern die Strukturen und Rahmenbedingungen, die ihm zugrunde lagen. Man griffe allerdings zu kurz, wollte man die Differenz auf eine Opposition von dargestellter Strukturgeschichte und erinnerter Ereignisgeschichte reduzieren. Denn noch etwas anderes wird mit diesen Äußerungen artikuliert: Die ehemaligen DDR-Bürger insistieren darauf, daß man den offiziellen, verordneten Teil ihres Lebens, die 'Rahmung' sozusagen, als den nicht-eigentlichen, nicht-authentischen Part beiseite lassen müsse. Insofern diente die Ausstellung mit dem schematisierten Lebenslauf der DDR-Biographie ihnen auch als Feld, das Distanzierungen zur Strukturgeschichte, zu einer spezifischen Form der Analyse und Betrachtung von Vergangenheit provozierte. In den Nischen der Gesellschaft hätten viele ihr Auskommen und ihre Zufriedenheit gefunden, lautet oft die Selbst- und Fremddeutung: "Ich war in der DDR trotz allem, was man im nachhinein als organisiert und manchmal auch stumpfsinnig bezeichnen möchte, glücklich. Glücklich, weil ich kein 'Held' war, weil ich oft meine Klappe hielt und die Nischen fand, die ich für mich suchte." (3: 13.11.93, m, Wittenberge)


Oft wird zwischen 'Vorder- und Hinterbühne' getrennt: Die staatlich und sozial verordneten Lebensstationen sind für viele das "Un-Eigentliche", das man ausklammert. So wird in den Besucherbüchern von denen, die in der DDR lebten, oft der im Rückblick als angenehm empfundene Alltag gegen die Dimensionen ausgespielt, die diesen Alltag strukturierten. 'Ist das Nostalgie, Verklärung von Geschichte oder vielleicht sogar doch die "wahre" Identität der DDR-Bürger, die sich darin ausdrückt?


"Wie gerne würde ich wieder ein Pionier sein, fröhlich zum Appell gehen. Ich finds scheiße, daß es die Mauer nicht mehr gibt. Es gab auch schlechte Seiten am Osten, aber es hatte wenigstens jeder eine Arbeit. Der Westen war zwar immer schön zu Ostzeiten, aber es war ein Reinfall. Was haben die Leute davon (die, die die Mauer nicht haben wollten), die meisten haben keine Arbeit und keine Wohnung mehr. Aber trotz allem: ich bin und bleibe ein vollblütiger Ossi, Martin S. 13 Jahre".) (4: 31.10.93)


Mit der Formulierung "Der Westen war zwar immer schön zu Ostzeiten . . ." drückt der Schüler Martin aus, was die Sozialwissenschaften als das Angewiesensein der beiden deutschen Staaten aufeinander bezeichnet haben; sie waren "Polarisierungszwillinge", die in ihrer Unterschiedlichkeit komplementär waren. Entsprechend ist nicht nur auffällig, daß viele Schüler und junge Menschen den Verlust der DDR und mithin auch den Bruch in der eigenen Biographie als schmerzhaft empfinden, sondern auch und besonders, daß sie die Bundesrepublik als den schlechteren deutschen Staat bewerten, demgegenüber sie der DDR den Vorzug gäben, wenn sie noch existierte. Viele Äußerungen sind aber auch sehr ambivalent, indem sie Gutes und Schlechtes an der Bundesrepublik nebeneinanderstellen. Doch wenn Negatives geäußert wird, geschieht dies oft sehr heftig. Vergleicht man diesen vorherrschenden Eindruck mit den Ergebnissen quantifizierender Jugendforschungen, wie etwa mit der großen Shell-Jugendstudie aus dem Jahre 1992, so lassen sich durchaus Parallelen, aber auch eine wichtige Differenz ausmachen. Die Shell-Studie kommt zu dem Ergebnis, daß die meisten Jugendlichen sich nicht eindeutig festlegen können oder wollen hinsichtlich der Bewertung ihrer Lebensveränderungen. 16 Im Unterschied dazu urteilen die Jugendlichen in den Besucherbüchern vielleicht authentischer, da der formale Beobachtungs- und Befragungsrahmen entfällt, jedenfalls aber sehr viel eindeutiger: negativ.


Bedauern angesichts der verlorenen Lebenswelt und Rückwärtsgewandtheit überwiegen. Der gerade von Analytikern des Zeitgeschehens oft geforderte nüchterne, kritische Blick auf die Zustände im realexistierenden Sozialismus ist kaum vorhanden, und Einflüsse einer in diesem Sinne wirkenden (schulischen) politischen Bildung sind nicht zu erkennen, denn nur sehr selten wird in einem Ost-West-Systemvergleich von den DDR-Bürgern ihr Staat genau betrachtet und (im analytischen Sinne) mit dem westlichen Gesellschaftssystem verglichen. Zu den wenigen Einträgen gehört der folgende, in dem eine Besucherin aus der ehemaligen DDR die Veränderungen formuliert, die sich ihrer Meinung nach besonders für die Frauen aus der Wiedervereinigung ergeben haben: "Es ist schade, daß alle Bereiche aus dem Leben in der ehemaligen DDR als schlecht abgetan wurden und nichts mehr eine Fortsetzung findet. Gerade für Frauen und deren Verwirklichung wurde doch mehr erreicht als in der BRD." (11: 22.7.93, w, Ostdeutschland)


Solche Äußerungen sind nicht häufig; interessant ist jedoch bezüglich des Verhältnisses der Geschlechter, daß die Frauen aus der ehemaligen DDR ein recht hohes Bewußtsein ihrer gesellschaftlichen Stellung zum Ausdruck bringen, das sich über die (staatlich erwünschte und geförderte) Voll-Berufstätigkeit und das Krippenwesen konstituierte. Brüche in diesem staatlich-gesellschaftlich vorgegebenen und verinnerlichten Bild werden auch im nachhinein nicht thematisiert, und die spezifische Geschlechterpolarisierung, die sich in politisch-gesellschaftlichem Patriarchalimus und Ungleichheit der Frauen bei vielfacher Mehrbelastung ausdrückte, gerät auch nachträglich nicht in den Blick.


Schaut man sich die wiedergegebenen Äußerungen und Haltungen einmal im größeren soziologischen Zusammenhang an, so fallen zwischen den Statements in den Besucherbüchern und anderen Datenmaterialien zur Transformation der DDR-Gesellschaft Ähnlichkeiten auf. Nicht nur verschlechterte objektive Lebensumstände, sondern auch enttäuschte Erwartungen und subjektive Beeinträchtigungen durch Orientierungsprobleme und verbreitete Zukunftsängste haben im Osten einen Stimmungseinbruch seit 1990 verursacht. So lautet das Ergebnis des Sozio-Ökonomischen Panels (SÖP), durchgeführt im Jahr eins nach der Wiedervereinigung. Danach war das Niveau der Zufriedenheit mit dem Leben im allgemeinen bereits 1990 in einem negativen Sinn "beeindruckend". Die Gesamtbevölkerung im Osten Deutschlands wies zu diesem Zeitpunkt in der Bilanzierung ihrer Lebensverhältnisse ein Niveau auf, das "im Westen lediglich bei typischen Problemgruppen (Arbeitslose; Alleinstehende; einsame Ältere; dauerhaft gesundheitlich Beeinträchtigte) anzutreffen war - und diese Tendenz hat sich im folgenden Zeitraum noch verstärkt: Im Juli 1991 sahen sich 84 Prozent aller Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse.


Die negative Einschätzung der Lebensverhältnisse ist dabei nicht unmittelbar abhängig von der finanziellen und beruflichen Situation: Nur rund die Hälfte der neuen Bundesbürger charakterisierte sich 1991 als mit den eigenen Lebensumständen "eher zufrieden".
Mit anderen Worten: Das Ende der gewohnten Lebensumstände erscheint ihnen - trotz gestiegener finanzieller Möglichkeiten, trotz politischer Freiheiten, Reise- und Konsumangeboten etc. - als Verlust, da es die Entwertung der bisherigen Lebensumstände bedeutet und genau dieser Verlust spricht auch aus den Besucheräußerungen: Er führt zu Nostalgie und Sentiment.

Man sieht: Die Bewertung dessen, was man selbst noch als Augenzeuge wahrgenommen hat, fällt ganz unterschiedlich aus - je nachdem, wie die eigene Biographie erzählt wird. Es gibt im Augenschein der Lebensstationen in der Bundesrepublik und der DDR keine homogene Vorstellung davon, wie sich das Leben in den beiden deutschen Staaten gestaltete.

 

 
           
 
 
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