Gudrun Leidecker
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Kinder und Jugendliche erleben die "Wende"
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Deutschland um 1900

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Gudrun Leidecker


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Es hat sich etwas verändert

Texte von Kindern nach einer Umfrage in den 5. Klassen einer Schule im Stadtbezirk Prenzlauer Berg


Es hat sich sehr viel geändert. Zum Beispiel dürfen wir unsere eigene Meinung sagen und kriegen sie nicht aufgebrummt. Die Lehrer sind auch viel netter geworden. Sie gestalten den Unterricht auch mehr. Zum Beispiel machen wir in Lite einen Stuhlkreis.

Jetzt dürfen wir unsere Meinung sagen, z. B. Honecker ist bescheuert. Vorher kam man gleich ins Heim.

Sogar unsere Sportlehrerin hat jetzt coole Sprüche auf Lager.

Der Unterricht ist nicht mehr so knallhart, sondern schön locker.

Wir haben die Tische anders gestellt und Kurzvorträge gemacht über AIDS, Drogen und Behinderung. Wir machen oft einen Stuhlkreis. Der Direktor hat sich auch geändert.

Wir haben einen neuen Direktor bekommen. Er erlaubt, daß wir zu einer Demo gehen durften. Er hat mit uns eine neue Schulordnung entworfen und wir alle haben eine Wandzeitung mit unseren Meinungen und Problemen gestaltet.

Vor der Wende war der Unterricht straffer. Es gab die Meldung, die ich nicht sehr originell fand. Wie beim Militär. Die Lehrer waren viel strenger, ich finde, durch die Wende hat sich der Unterricht gelockert, als ob sie sich erleichtert fühlen würden.

Wenn ich früher mit einem Comic gekommen bin, bekam ich entweder eine "nette" Aufforderung, es wegzupacken, oder ich hatte wieder eins weniger. Komme ich jetzt mit der "Bravo" an, habe ich keine Schwierigkeiten mit den Lehrern. Also kann ich sagen, es ist ungezwungener geworden. Dafür gibt es noch andere Beispiele. Früher stand man stramm vor dem Unterricht. Vorne war einer, der uns wie Puppen behandelte, die man in die gewünschte Form bringen konnte. Endlich wurde damit aufgehört und sieh, es geht auch so.

Oder noch ein Beispiel: Wir gleichen uns immer mehr dem Westen an. Z. B. wird fast nur noch aus Büchsen getrunken, die Lehrer sind wie drüben viel lockerer, und unsere neueste Errungenschaft: der Lehrerstreik. Doch irgendwie hatten wir (?) größeren Nutzen an dem Streik. Ein letztes Beispiel, das auch höchst erfreulich ist: Die früheren Genossen wie Frau ... werden zum Organisator großer Kundgebungen. Dieser Sinneswandel um 360° ist natürlich sehr positiv und auch die Schüler erleben an der eigenen Schule Geschichte.

Meine Gedanken, Wünsche und Träume zu den Veränderungen in unserem Land

... Ich wünsche mir, daß die Stasi abgeschafft wird oder Stasi in die Volkswirtschaft.

Meine Eltern reden fast jeden Abend von 40 Jahren Ausbeutung oder daß sie ihre Arbeit verlieren.

In der Schule haben sie Veränderungen vorgenommen: Keine Hausschuhe mehr und Musik in den Pausen. Es sollte Fanta, Coca Cola und Sprite oder sowas verkauft werden und nicht Fruchtkakao und Vollmilch. In unserem Land ist die Wirtschaft am Boden. Leipzig ist total dreckig. Meine Schwester ist egal krank. Ich will, daß in den Kindergärten viel Obst verteilt wird für die Kleinen. Aber am meisten hat mich die Wahl verärgert. Da flog ein Hubschrauber und warf Flugblätter herunter. Leipzig ist dreckig genug. Wir werden weitersehen nach den Wahlen ...
Junge, 11 Jahre, Leipzig

Es fing letztes Jahr im August an, als alle rüber gingen. Aber ich wollte nicht in den Westen. Hier hatte ich meine Freunde, mein Zuhause und meine gewohnte Umgebung. Und dazu kam auch noch, daß Honecker und die anderen gemeine Hunde waren. Da war ich ganz fertig. Inzwischen war ich schon dreimal drüben. Ganz schön und gut vom Einkaufen und der Umgebung, aber hier ist mein Zuhause. Manchmal träume ich von den alten Zeiten, aber auch da hat es mir nicht gefallen. Es gibt bei mir Zeiten, da weiß ich selbst nicht, was mir gefällt und was nicht.
Mädchen, 12 Jahre, Neubrandenburg

Die vielen Veränderungen in unserem Land haben in meiner Familie viel Streit und Meinungsverschiedenheiten hervorgerufen. Es ging meist um Politik und darum, welche Partei man wählt. Das sind sicherlich wichtige Dinge, aber die Probleme, die uns Kinder betreffen, werden sehr selten oder gar nicht besprochen. Deshalb bin ich froh, daß jetzt auch mal nach unserer Meinung zu den Themen, die uns betreffen, gefragt wird. Ich habe ein paar Vorstellungen dazu, was in der Schule verändert werden könnte. Man könnte meiner Meinung nach zum Beispiel die Meldung weglassen. Es wäre besser, wenn der Lehrer in die Klasse kommt, die Schüler begrüßt und dann gleich mit dem Unterricht beginnen würde. Auch ein Morgenlied muß nicht sein. Weiterhin müßten die schriftlichen Hausaufgaben wegfallen. Ich würde mir auch wünschen, daß alle drei Fremdsprachen freiwillig sind, aber eine muß gemacht werden. Die Lehrer sollten nicht so schnell Einträge geben. Erst wenn dreimal in demselben Fach etwas vergessen wurde, dann müßte es einen Eintrag geben. Weiterhin würde ich mir wünschen, daß sich alle Lehrer bemühen, den Unterricht so interessant wie möglich zu gestalten. Es wäre auch schön, wenn alle Räume in der Schulzeit offen sind. So kann man sich länger vorbereiten. Ich wäre auch froh, wenn das Verhalten zwischen Lehrern und Schülern etwas entspannter wäre. So sehen meine persönlichen Wünsche und Gedanken aus. Ich würde mich freuen, wenn diese verwirklicht würden.
Junge, 12 Jahre

Ich fühle mich oft allein gelassen. Ich bin der Meinung, unsere Interessen werden zu wenig vertreten, oder sagen wir, wir merken nicht viel davon. Ich habe Angst um meinen Job. Ich will Lehrer werden für die Unterstufe, bisher war alles klar, 10. Klasse Abschluß und dann aufs Institut für Lehrerbildung. Aber jetzt heißt das, eventuell Erweiterte Oberschule oder so. Ich habe Angst, daß sie mich mit meiner "Allgemeinbildung" nicht annehmen. Oder zu Hause! Meine Eltern zanken sich oft wegen der Wende. Wie man so sagt: "Zwei Unverbesserliche!" Zwei verschiedene Meinungen, die da aneinanderprallen, und keiner gibt nach. Meine Schwester und ich haben manchmal Angst, daß sich meine Eltern scheiden lassen. Das klingt vielleicht absurd, aber es ist so: Durch die Wende haben wir viele Probleme gekriegt, sowohl zu Hause, als auch in der Schule, und mit keinem kann man sich aussprechen.
Mädchen, 14 Jahre, Greifswald

Die Wende, ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Deutschen; für mich, bis jetzt in meinem Leben, das größte gesellschaftliche Ereignis. Noch vor einem Jahr hätte ich mir nicht vorstellen könne, daß es bei uns eine Revolution geben wird, daß die deutsche Wiedervereinigung zum Brennpunkt des Geschehens in Europa und in der Welt wird. Natürlich gab es Gedanken um das Leben in unserem Land. Man hatte so seine Vorstellungen, wie unserer Gesellschaft aussehen müßte. Dabei stellte ich aber eigentlich nie den Sozialismus als Gesellschaftsordnung in Frage. Deshalb kann ich mich jetzt auch nur schwer mir dem Gedanken auseinandersetzen, daß viele Leute in unserem Land den Sozialismus ablehnen. Vielleicht liegt es daran, daß ich im Sozialismus aufgewachsen bin, einfach nichts anderes kenne. Es gab zu wenig Möglichkeiten, andere Systeme kennenzulernen. Dann im Herbst `89 gab es die Revolution, und für mich stand die Welt auf einmal auf dem Kopf. Alles, was bisher als richtig betrachtet wurde, geriet jetzt in Zweifel und damit auch mir anerzogene oder eigene Ansichten. Sicher, ich war froh, daß man jetzt endlich die Freiheit besaß, alles, was man dachte und fühlte, zu sagen. Aber diese Ungewißheit und das Durcheinander, das einem jeden Tag begegnete, machte es mir nicht leicht, mich in dieser neuen Situation zurechtzufinden. Schließlich war man bisher an einen "geraden" Lebensweg gewöhnt.
Mädchen, 17 Jahre, Demmin

Natürlich bin ich für den Frieden, aber "Immer bereit" stand für die Pionierorganisation. Oder etwa nicht? Denn die Pionierorganisation war doch nicht für Meinungsfreiheit. Durften wir denn unsere Meinung sagen?! Waren wir nicht in der Pionierorganisation, so wurde man öfter benachteiligt. Oder etwa nicht?! Warum lassen unsere Lehrer dieses "Immer bereit" jetzt weg! Ich bin "Immer bereit" für den Frieden, und meine Meinung will ich auch sagen. Aber nicht "immer bereit" für die Pionierorganisation ...
Mädchen, 11 Jahre

... meine christliche Freundin war bei allen Veranstaltungen gern gesehen. Sie braucht aber ihre Weltanschauung nicht verändern, meine ist ganz schön ins Wanken geraten ...
Mädchen, 12 Jahre

Ich möchte mich nun mit einem Problem an Euch wenden und erbitte mir Antwort. Ich möchte Euch mein Problem schildern. Unsere Pionierleiterin ließ uns über unsere Klassenlehrerin ohne jede Begründung mitteilen, daß sich jeder entscheiden sollte, ob er in der Pionierorganisation bleiben will oder nicht. Alle aus meiner Klasse sind ausgetreten, einfach so, ohne jeden Grund. Nur ich nicht und unser Gruppenratsvorsitzender. Aber er weiß noch nichts von dem, denn er ist zur Zeit in der Pionierrepublik. Ich habe mit unserer Klassenleiterin gesprochen und sie gefragt, warum wir jetzt so plötzlich gefragt wurden und was wäre, wenn wir ausgetreten sind, ob es noch andere Organisationen geben wird. Sie konnte mir keine klare Antwort geben. Aber sie riet mir auszutreten. Sie sagte nur: "Sicher wird es andere Organisationen geben. Das wird natürlich noch dauern. Aber spätestens in der FDJ hättest Du bemerkt, daß es nicht das Gelbe vom Ei ist." Ich war sehr enttäuscht.
Mädchen, 12 Jahre

© Gudrun Leidecker, 1993

 
           
 
 
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