„Heimwärts geht es für mich nur nach Deutschland“

Nicht zuletzt seit dem Referendum in der Türkei am 16. April 2017 wird viel über die deutsch-türkischen Beziehungen und ebenso über die Haltung der in Deutschland lebenden Türken gesprochen. Zu seiner Befindlichkeit zwischen deutscher und türkischer Kultur hielt der Schriftsteller Feridun Zaimoglu bei der Eröffnung der Ausstellung „Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland“ am 20. Mai 2016 folgende Rede:

Im Anfang war Deutschland ein Wort aus zwei Silben, das in zwei Stücke brach: Ich lebte unter Deutschen, ich lebte in ihrem Land. Mein Vater lötete in einer Metallfabrik Gitter und Boden zu Frachtkisten für die Deutsche Post. Meine Mutter steckte bei Telefunken in Akkordarbeit Formelemente in die Buchsen. Der Kontakt zu deutschen Nachbarn war untersagt. Die deutsche Dame im Nachbargarten scherte sich nicht darum. Sie reichte mir und meiner Schwester durch die Hecke Pralinen mit Eierlikörfüllung. Wir wurden munter, wir kalbten auf dem Stück Rasen im Hintergarten, wir sagten kichernd Dankeschön. Der andere Nachbar lag an sonnigen Tagen regungslos auf der Liege, er hatte lange Haare und breite Bartleisten, ich starrte ihn an. Eines Tages starrte er zurück, er klappte die Oberlider im und verdrehte die Augen, ich fiel vor Angst fast um. Er führte mir vor, wie man durch die Nase pfiff, wir verständigten uns fast nur noch über Nasenpfiffe. Der Hausmeister nannte ihn einen Bombenleger, einen Knastbruder, sie gingen einmal in der Woche zusammen trinken. Der Wirt im Wirtshaus spendierte mir immer eine Knackwurst, der Senf trieb mir Tränen in die Augen. Ich durfte den Hinterhof kehren und bekam von ihm für ein bißchen Arbeit sehr viele Groschen. Nach einem Jahr sprach ich wie ein deutscher Bub, ich lernte, das R nicht zu rollen. Die Türkenkinder im Viertel teilten sich in Haufen auf. Die einen wollten ausländisch bleiben, sie plapperten die Worte der Väter nach. Sie lobten und rühmten das Urlaubsland, in dem sie als Deutschländer auffielen. Die anderen wollten von der Arbeiterbaracke loskommen, und aber waschechte Türken bleiben. Ich galt als kleiner Depp, der blöde Fragen stellte. In der sechsten Klasse traf ich auf Memet, der von Scham, Schande und Schicklichkeit sprach. Er zeigte auf meine Schwester, die eine ärmellose Bluse mit Spaghettiträgern trug. Das Gesetz, zischte er, verbietet das! Auf dem Pausenhof wurde ich von den Türkenkindern gemieden, weil ich die Ehre meiner Schwester nicht verteidigt hatte. Sie streuten Gerüchte über meine Verdorbenheit. Der Schneider Ali redete mir ins Gewissen: Ein Türke blieb zeitlebens und überall der Rächer seiner Familie, ich geriet auf Abwege, ich sollte mich von Deutschland nicht blenden lassen. Seltsam, dachte ich, mit den Deutschen ist es immer lustig, ihr aber rügt mich wegen jeder Kleinigkeit. Ich mied die Nähe der Ehrenkämpfer, die wie Bluthunde über die Unschuld der Schwestern wachten. Es hielt sie nicht davon ab, über andere Frauen im Genitaljargon herzuziehen. Das Viertel wurde zur Heimatkulisse. Die Jungs ließen sich einen Gaunerbart stehen, knöpften das Hemd auf, und ließen den Goldketten-Halbmondanhänger blitzen. Ich saß in der Bücherei und las Gedichte von Ingeborg Bachmann. Auf Sippe und Sitte gab ich nichts. Die Gangster im Milieu waren nur enthemmte Spießer, auf ihr Lob konnte ich verzichten.

In der achten Klasse blühte ich auf, ich war der einzige Herkunftsfremde, die Schulfreunde sahen in mir komischerweise einen buntgefiederten Indianer. Wenn die Sonne schien, sagten sie: Freu dich, es ist wie bei euch in der Heimat! Im Karneval sollte ich mich als Sultan mit Turban, Weste und Pluderhose verkleiden. In der neunten Klasse schlug sich Beate auf die Seite der RAF-Mörder. Es ging um die deutsche Schuld, um die Bonzen als Weichziele, um die verdiente Kugel. Ich widersprach, Beate schrie: Bleib‘ in deinem Fach, du kannst nicht mitreden. Die Lehrerin raunte etwas über die Gnade der fremden Volkszugehörigkeit. Es klang falsch, ich zerbrach mir den Kopf, dann sagte ich: Mord ist Mord, was gibt’s da noch zu bedenken? Später saß ich im Direktorenzimmer, der Schulleiter sprach: Sei wachsam, fremdes Kind. Du verkehrst nicht mit deinesgleichen. Hier, in deinem Gastland, verhält es sich alles anders. Hör zu und schweige still! Der Mann machte sich wichtig, ich nahm mir seine Worte nicht zu Herzen. An einem Sonntag traf ich nach Jahren den Bombenleger, wir grüßten uns mit Nasenpfiffen. Die Backenborsten waren ergraut, er hatte zwei Scheidungen hinter sich, seine Frau lief nach einem Rechtsdrall zu den Salonnazis über. Sie kämpfte gegen die biologische Invasion der Südländer, gegen die Durchrassung des deutschen Volkes. Die Skins in meinem Viertel haßten mich genauso wie die taffen Türkenschläger. Sie riefen: Irgendwann reißen wir dir die Maske herunter, dann kommt der Achmet zum Vorschein! Im ersten Semester Medizin saß ich in einem Bibelkreis. Karins Großmutter kam aus Schlesien, sie hatte ihrer Enkelin den Umgang mit Moslems verboten. Als Zeichen meines guten Willens sollte ich sie zum Bibelstudium begleiten. Der Priester und ich führten wüste theologische Gespräche, Karin bat mich um Mäßigung, sonst könnte sie ihr Herz nicht an mich verlieren. Ich entschied mich gegen die Langeweile und floh ins Freie. In den nächsten Jahren klingelten viele Missionsschwestern an meine Tür. Bei den Linken galt ich als ein verzweifeltes Subjekt des Systems. Für die Rechten war ich ein Fremdkörper. Ich aber wies mich nicht aus, ich verortete und bekannte mich nicht. Das Leben war stärker als jede Kultur, als jedes Fremdwort, als jede Theorie. Die Radikalen bekamen Auftrieb: Sie pochten an die Türen der Moscheen, und da sie als überspannte Sektenspinner abgewiesen wurden, trafen sie sich in Zirkeln. Ein bärtiger Frömmler schimpfte mich Teufels Spucke. Was braute sich zusammen, was bekam ich nicht mit? Längst hatte sich Deutschland zu einem Wort zusammen gefügt, längst war ich deutsch geworden. Man unterstellte mir weiterhin Täuschung und Verstellung. Im Kultursektor wurde ich zum Kulturträger. Eine verschwipste Moderatorin sagte nach meiner Lesung beim Essen: Der kleine große Unterschied zwischen Ihnen und uns ist, daß Sie beschnitten sind. Vergessen Sie das nicht. Denn wir vergessen es nie! Donnerwetter, dachte ich, geht es wirklich um ein Hautläppchen? Ich kam als Redefigur in verschiedenen Verkleidungen vor, je nachdem, was die Betrachter in mir zu sehen wünschten: Türke, Janitschare, Hunnenmoslem, Verderber der gesitteten Frauen, Geschöpf der niederen Ordnung. Ich traf auf türkische Studenten, sie hatten sich verpanzert und wehrten schädliche Einflüsse ab. Sie prahlten mit ihrer Eigenart, mit Natur und Wesen, mit einem unzerstörbaren Kern. Ein vaterländisch gesinnter junger Mann stellte mir die für ihn entscheidende Frage: Möchtest du nicht auch, wie jeder Patriot, in geweihter Heimaterde begraben werden? Ich sagte: Nö. Große klingende Worte, Worte einer behaupteten Zähigkeit. Die Akademiker tadelten meine brutale Anpassungsleistung. Sie nannten mich einen dienstbaren Geist, einen assimilierten Knecht, einen Meister der Selbstverleugnung. Wieso machten sie es derart kompliziert? Ich lebte nicht dort, ich lebte hier. Tradition klopfte die Seele gefügig, die Ideen brannten sie aus dem Fleisch. Um den Wohlstand des schönen Wortes, um ein richtiges kenntliches Leben ging es mir.

Es wird keine Ruhe einkehren, ich werde diese Schlachten auch morgen schlagen. Meine Eltern sind eingewandert und nach dreißig Jahren heimgekehrt. Heimwärts geht es für mich nur nach Deutschland. Meine Geschichte ist eine Geschichte der gelassenen Heimatfindung. Ich bin kein Ausstellungsstück im Volkskundemuseum. Ich habe keine Augen am Hinterkopf, und also bin ich blind für meinen Hintergrund. Ich bin mein deutscher Vordergrund. Wer glaubt, er könne sich unbeschadet heraus schälen aus Ablauf und Alltag, hängt einer Wahnidee an: Er erstarrt zum atmenden Leichnam. Ich bin vom Fremden zum Landsmann gereift in meinem nicht mehr fremden Land.

© DHM / Wolfgang Siesing

Feridun Zaimoglu

Feridun Zaimoglu wurde 1964 im anatolischen Bolu geboren und verbrachte die ersten 2 Jahrzehnte seines Lebens in München, Berlin und Bonn, bevor er 1985 nach Kiel kam, um dort Kunst und Humanmedizin zu studieren. Die Türkei ist das Heimatland seiner Eltern. Für ihn, Feridun Zaimoglu, ist es jedoch Deutschland – und seine Heimatstadt ist Kiel. Mehr zu Feridun Zaimoglu unter: http://www.feridun-zaimoglu.com/vita_fz.html