Karneval – eine kleine Geschichte des organisierten Frohsinns

Mit der heutigen Weiberfastnacht wird wieder die Karnevalssaison eingeleitet. Im Rheinland, aber auch in Süddeutschland, herrscht Ausnahmezustand. Die schwäbisch-alemannische Fastnacht lässt den Besucher denken, er sei Zeuge eines volkstümlichen mittelalterlichen Brauches. Doch ist Karneval wirklich so alt? Wie es zu dieser Tradition des organisierten Frohsinns kam, erläutert der Historiker Robert Kluth.

Karneval, Fastnacht oder auch Fasching bezeichnen heute dasselbe Phänomen: das gemeinsame Feiern und Verkleiden vor Aschermittwoch. Verortet wird der ursprüngliche Anlass oftmals im alten römischen Jahresbeginn. Damals begann das Jahr im März und nicht im Januar. Doch so wie wir den Karneval heute kennen, liegt sein Ursprung im Christentum.

Narrenspiegel am Rathaus zu Nördlingen aus dem 17. Jh. Es zierte den Eingang zu einer Arrestzelle, Foto 1936/1945 © DHM

Narrenspiegel am Rathaus zu Nördlingen aus dem 17. Jh. Es zierte den Eingang zu einer Arrestzelle, Foto 1936/1945 © DHM

Das Symbol der Sünde ist der Narr: In der Frühen Neuzeit trägt er einen Spiegel auf einem Stab und verdeutlicht damit seine Selbstbespiegelung bzw. Egozentrik. Seine Ursprünge liegen in der „Torheit“: Er ist ein „Tor“, wie er in Psalm 52 beschrieben wird, und folglich ein willensschwacher Gottesleugner.

Der Karneval und die Kirche

Die mittelalterliche Kirche förderte den Karneval, um die Sünde zu verbildlichen: Unten wurde oben, als Teufel und wilde Männer verkleidete Menschen liefen durch die Stadt, es wurde über die Maßen konsumiert, es gab sexuelle Ausschweifungen. In der Theologie des Mittelalters ist der Karneval das Beispiel der Gottesferne. Am Aschermittwoch beginnt jedoch die Fastenzeit, die Zeit des Nachdenkens und der Sündenbekenntnis, und alles beginnt von neuem.

(Beinahe) veganes Leben im Mittelalter

Die „Fastnacht“ bezeichnet die letzte Nacht vor dem Fasten. Über vierzig Tage wurde im Mittelalter ein beinahe veganes Leben geführt. Bis auf Fisch waren alle tierischen Produkte verboten: keine Eier, kein Schmalz, keine Milch, keine Butter, kein Käse, kein Fleisch. Da Fleisch und andere Nahrungsmittel in dieser Nacht verspeist werden mussten, liegt auch ein pragmatischer Ursprung in der Fastnacht. Übersetzt bedeutete das aus dem Italienischen stammende Wort „Karneval“ auch „Wegnahme des Fleisches“. In Nürnberg tanzten bis ins 16. Jahrhundert zu Karneval die Metzger und hielten sich hierbei an Wurstzipfeln fest. Auch finanziell brach für diesen Handwerksstand eine Zeit der Entbehrung an.

Karneval in der Krise

Die Reformation schaffte das Fasten und damit auch den Karneval ab. Zwar feierte mancherorts das protestantische Christenvolk bis ins 17. Jahrhundert weiter, aber bis heute sind ehemals evangelische Städte oft karnevalsbefreite Zonen. 300 Jahre später galt den Aufklärern Karneval als archaisches Überbleibsel, das abgeschafft gehörte. Der rauschhafte, unvernünftige Karneval wurde als „Unfug“, „ruhestörend“ und „unsittlich“ eingestuft. Zudem wäre er eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, wie die süddeutschen Länder Württemberg und Baden 1809/1810 in ihren offiziellen Verboten den Karneval beschrieben.

Die Geburt des modernen Karnevals – der Tod der Fastnacht

Die deutsche Romantik rettete den Karneval. Die geschichtsbewusste, naturverbundene Reaktion auf die Aufklärung war fasziniert vom Frohsinn. Der Karneval wurde nun als „Kultur“ und „Brauchtum“ definiert. Das gehobene Bürgertum entdeckte die Tradition der einfacheren sozialen Schichten. Sie begannen damit, das Fest zu ästhetisieren – nun sollte es „schön“ und „gesittet“ durchgeführt werden.

1823 wurde der moderne Karneval in Köln geboren, das damals unter preußischer Herrschaft stand. Der Exzess wurde nun von einem „Festordnenden Komitee“ organisiert, das sich vieles von den Preußen abguckte: Uniformen, Karnevalsorden und die Narrenkappe. Auch den „Helden Karneval“, der auf den Straßenumzügen in Erscheinung trat, erfand man.

Karnevalsmütze der Prinzen-Garde Köln 1905 e.V., 1970/1980 © DHM

Karnevalsmütze der Prinzen-Garde Köln 1905 e.V., 1970/1980 © DHM

 Wachsfigur eines Offiziers, Dragoner-Regiment D XI, Preußen, um 1750 © DHM

Wachsfigur eines Offiziers, Dragoner-Regiment D XI, Preußen, um 1750 © DHM

Sessionsorden der Karnevals-Gesellschaft Alt-Köllen von 1883 e.V., 1999 © DHM

Sessionsorden der Karnevals-Gesellschaft Alt-Köllen von 1883 e.V., 1999 © DHM

„Ordnende““ Komitees entstanden nun vielerorts. Der Staat wollte damit den Frohsinn einhegen und organisieren. Auch Süddeutschland wurde zum Karnevalsland, die Fastnacht verschwand. Es gab Maskenbälle für die bürgerliche Oberschicht, und farbenprächtige Umzugswagen zogen durch die Stadt. Vermummungen galten als unmodern und verschwanden.

Verkehrte Ordnung – oder doch nicht?

Bis auf eine kurze Episode zur Zeit der Revolution 1848, als in Köln der Rosenmontagsumzug zum gänzlich unromantischen Thema „Die Arbeiterklasse erwacht“ durch die Stadt zog, war der organisierte Karneval auf ein gutes Verhältnis zum Staat bedacht: In Köln wurde aus dem „Helden Karneval“ der „Kaiser Karneval“ und ab 1871, da es nun wieder einen Kaiser gab, „Prinz Karneval“.

Mit Beginn des Kaiserreichs wuchsen Historismus und Rückbesinnung auf das Alte. In Süddeutschland – einer Landschaft mit kleinen Ortschaften und ohne Metropolencharakter – begannen die Handwerker ab den 1880er Jahren ihre alte „Fastnacht“ zurückzufordern. Dieser konservative Rollback wurde im Rheinland nicht vollzogen, hier entwickelte sich der Karneval zum Volkskarneval weiter. In Süddeutschland hingegen wurden die historischen Umzüge abgeschafft und Narrenzünfte gegründet. Ihre Umzüge wurden „Narrensprünge“ genannt.

Erfindung von Tradition

Der Erste Weltkrieg, die „Fastnacht der Hölle“ (Ernst Jünger), war eine Zäsur. Die junge Weimarer Republik verbot Umzüge und Narrensprünge, ließ aber „historisch belegbare Tradition“ zu. Daraufhin explodierte in Süddeutschland die Zahl der Narrenzünfte. Fastnachtsvereine führten nun oft das Adjektiv „althistorisch“ im Namen, um die geforderte „belegbare Tradition“ beweisen zu können. Um eine „echte“ Fastnacht feiern zu können, erfand jede Narrenzunft kurzerhand „traditionelle“ Figuren. So entstanden 1927 die Bonndorfer Pflumenschlucker oder 1938 die Meßkircher Katzen. Die heute scheinbar uralten Narrenfiguren stammen oft aus dieser Zeit.

Die Nationalsozialisten schließlich hofierten die Narren, galt doch die süddeutsche Fastnacht als „Vorzeigebrauch“ (Werner Mezger). Man dichtete ihr germanische Wurzeln an und negierte die christlichen. Der Kölner Umzug zeigte antisemitische Motive, Karnevalssitzungen begannen mit Hitlergruß und Absingen des Horst-Wessel-Lieds.

WHW-Abzeichen, Stadtturm mit Narrengesicht, Faschingssammlung in Nürnberg vom Februar 1939 © DHM

WHW-Abzeichen, Stadtturm mit Narrengesicht, Faschingssammlung in Nürnberg vom Februar 1939 © DHM

Nach 1968 versuchten die Narren in Süddeutschland den Teufel mit der Fastnacht auszutreiben. Es kam zu einer erneuten Fastnachtsexplosion. In Reaktion auf die Revolte entstanden tausende neuer Narrenzünfte. Man studierte Ortschroniken, Ortsnamen und Traditionen der Landwirtschaft, um weitere neue Narrenfiguren erfinden zu können. Der Volkskundler Werner Mezger resümiert:

„So gesehen eröffnet jede einzelne neu geschaffene Narrenfigur […] einen hoch interessanten Einblick in den Baukasten lokaler Identität.“

Zeitgleich entstanden in Köln alternative Traditionen in Absage an den Straßenkarneval: Der „Geisterzug“ zieht seitdem wieder durch die Stadt oder man lacht bei der Stunksitzung.

Karneval global

Auf der ganzen Welt finden sich heute Formen des Karnevals. Er ist Identitätsanker in einer globalisierten Welt: Er gilt als „echt“, „historisch“ und „authentisch“, er ist „Heimat“. Lebendig konnte das Brauchtum jedoch nur bleiben, da neue Traditionen erfunden wurden – gerade in den 1970er und 1980er Jahren. Karneval ist daher uralt und zugleich flexibel und lebendig.

Stierkopf vom Karneval der Kulturen in Berlin, 2000 © DHM

Stierkopf vom Karneval der Kulturen in Berlin, 2000 © DHM

Robert Kluth

Robert Kluth ist Historiker und Ausstellungskurator und hat u. a. für deutsche und amerikanische Museen gearbeitet. Zurzeit unterrichtet er Geschichte und Philosophie an einem Berliner Gymnasium. Erreichbar ist er via Twitter.