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Das Kaiserreich

Das Deutsche Reich war eine konstitutionelle Monarchie und mit 41 Millionen Menschen im Jahr der Reichsgründung 1871 der bevölkerungsreichste Staat in Mitteleuropa. 1914 lebten bereits 68 Millionen Menschen in Deutschland, das sich zur größten Industrienation Europas entwickelt hatte. An der Spitze dieses von vielen Deutschen im 19. Jahrhundert herbeigesehnten Nationalstaates stand der König von Preußen, der den vererbbaren Titel „Deutscher Kaiser“ führte. Die Richtlinien der Innen- und Außenpolitik bestimmte aber Otto von Bismarck, der als „Reichsgründer“ über enormes Prestige verfügte. Anders als sein Großvater Wilhelm I. überließ der 1888 inthronisierte Kaiser Wilhelm II. die politische Führung nicht dem Reichskanzler. Nach der Entlassung Bismarcks 1890 wollte Wilhelm II. das wirtschaftlich prosperierende Deutsche Reich in „persönlichem Regiment“ auch machtpolitisch zu „Weltgeltung“ führen. Dadurch geriet Deutschland immer wieder in Konflikt mit anderen europäischen Großmächten und manövrierte sich in eine gefährliche außenpolitische Lage. Nur auf das enge Bündnis mit Österreich-Ungarn war am Vorabend des Ersten Weltkrieges 1914 noch Verlass. Die militärische Niederlage Deutschlands 1918 besiegelte auch das Ende des Kaiserreiches.

Das „Bismarckreich“ 1871 bis 1890

Otto von Bismarck wollte das neu gegründete Deutsche Reich außenpolitisch sorgsam in das sensible europäische Staatensystem einbinden. Er erklärte mehrfach, das Reich sei „saturiert“ und müsse nicht als potentieller Aggressor gefürchtet werden. Ausgehend von der Überzeugung, Frankreich werde den Verlust von Elsass-Lothringen nie akzeptieren und stets bestrebt sein, das 1871 an Deutschland verlorene Gebiet mit allen Mitteln zurück zu gewinnen, knüpfte Bismarck ein Bündnissystem mit Beistands- und Neutralitätsabkommen. Jedoch suchte Deutschland keine Aussöhnung mit Frankreich, das immer nach einer Revanche für die Niederlage von 1870/71 trachtete. Die politische und militärische Isolierung Frankreichs war deshalb die Prämisse von Bismarcks Außenpolitik. Einen neuen Krieg verhindern konnte diese Politik aber nur so lange, wie unter den sich gegenseitig misstrauisch beobachtenden Großmächten ein militärisches Gleichgewicht bestand.  

Galt Bismarcks außenpolitisches Hauptaugenmerk der Verhinderung von Koalitionen der Großmächte gegen Deutschland, so sorgte er sich im Inneren vor allem um den nationalen Zusammenhalt. Als ernste Bedrohung für die preußisch-protestantisch geprägte Monarchie empfand Bismarck den politischen Katholizismus, dessen Einfluss er im „Kulturkampf“ vergeblich auszuschalten versuchte. Die größte Gefahr für das von konservativen Eliten getragene gesellschaftspolitische System sah Bismarck aber in der erstarkenden Arbeiterbewegung. Mit repressiven Maßnahmen bekämpfte der Staat die Sozialdemokratie, deren Strukturen jedoch mit dem von 1878 bis 1890 gültigen „Sozialistengesetz“ nicht zerschlagen werden konnten. Zugleich wollte Bismarck die Arbeiter mit einer fortschrittlichen Sozialgesetzgebung an den Staat binden. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Bismarck und Wilhelm II. über das „Sozialistengesetz“ gaben am 20. März 1890 schließlich den Anlass für den erzwungenen Rücktritt des 75-jährigen Reichskanzlers. Von den Wertvorstellungen des altpreußischen Landadels geprägt, war dem Junker Bismarck der Zugang zu den Problemen der entstehenden Industrie- und Massengesellschaft verschlossen geblieben.

Die „Wilhelminischen Ära“ 1890 bis 1914

Der junge, technikbegeisterte Wilhelm II. schien ungleich mehr Verständnis für die fortschreitende Modernisierung der industriellen Gesellschaft zu haben. In bewusster Abgrenzung zu seinem als liberal geltenden Vater, dem nach nur 99-tägiger Regentschaft verstorbenen Friedrich III., war Wilhelm II. aber ein entschiedener Gegner des Parlamentarismus. Die von Liberalen und Sozialdemokraten geforderte Einführung einer parlamentarischen Regierungsform war unter ihm nicht durchsetzbar. Im Reichstag blieb eine seit 1871 bestehende Fünf-Parteien-Konstellation vorherrschend. Gegenüber dem katholischen Zentrum, den Konservativen sowie den Links- und Nationalliberalen konnten die Sozialdemokraten auch in der „Wilhelminischen Ära“ erhebliche Stimmenzuwächse verzeichnen und stellten 1912 erstmals die stärkste Reichstagsfraktion. Die Bedeutung der organisierten Arbeiterbewegung wuchs mit der fortschreitenden Industrieentwicklung des Reiches. Von 1871 bis 1914 versechsfachte Deutschland seine industrielle Produktion und überflügelte damit Großbritannien. Dem starken Wirtschaftswachstum stand ein ebenso rasanter Aufschwung von Wissenschaft und Forschung zur Seite. Vor dem Ersten Weltkrieg ging jeder dritte Nobelpreis für Naturwissenschaften nach Deutschland. Bahnbrechende Fortschritte in der Medizin, technische Errungenschaften wie die Elektrizität oder das Automobil und eine erhöhte Mobilität veränderten die gewohnten Lebenswelten.  

Großstädte hatten durch den Aufschwung der Wirtschaft Massen von Zuwanderern angelockt, die häufig in Mietskasernen unter beengten und unhygienischen Bedingungen ein zumeist tristes Leben führten. In krassem Kontrast dazu standen die Prachtbauten und die luxuriöse Repräsentation erfolgreicher Unternehmer und Bankiers, die auch politisch an Einfluss gewannen. Diese aufstrebende Schicht des Großbürgertums konkurrierte in ihrer Selbstdarstellung mit dem Adel, der seine gesellschaftliche Leitfunktion noch behaupten konnte. Das öffentliche Leben im Kaiserreich wurde von einer tradierten Gesellschaftsordnung geprägt, die alles Militärische extrem überbetonte. Gleichzeitig aber machten Reformbewegungen und künstlerische Avantgarde auf sich aufmerksam, die auf Überwindung autoritärer Konventionen und als überkommen angesehener Lebens- und Kunststile abzielten.

Zugleich nahm in der Meinungsbildung die Bedeutung nationalistischer, häufig antisemitisch argumentierender Agitationsverbände zu, die auch eine politische „Weltmachtstellung“ für das zu einem Industriegiganten aufgestiegene Deutsche Reich mit allen Mitteln einforderten. In festem Glauben an die Überlegenheit der deutschen Wehrkraft wollte Wilhelm II. Deutschland einen „Platz an der Sonne" sichern. Doch die Welt war unter den imperialistischen Staaten schon weitestgehend aufgeteilt. Der unter dem Kaiser erworbene Kolonialbesitz war unbedeutend und stand in keinem Verhältnis zu den politischen Folgekosten der Flottenaufrüstung. Insgesamt zeigte sich das deutsche Kaiserreich unter Wilhelm II. so widerspruchsvoll wie der Monarch selbst: Deutschland schwankte zwischen den Extremen einer überaus dynamischen Modernisierung und dem strikten Beharren auf längst unzeitgemäßen Traditionen. Vor allem in Preußen, dem mit Abstand wirtschaftlich stärksten und bevölkerungsreichsten Land, prallten industrieller Fortschritt und konservative Agrarstrukturen hart aufeinander. Das Ausland erblickte im Deutschen Reich – und hier vor allem in Preußen – eine bedrohliche Hochburg von Reaktion und Militarismus, dessen aggressives imperiales Machtstreben die zu einer Triple-Entente zusammengeschlossenen Großmächte Russland, Frankreich und Großbritannien einzuschränken suchten. Deutschland wiederum sah sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges von Feinden „eingekreist", die seinen weltpolitischen Aufstieg verhindern wollten.

Arnulf Scriba
15. Oktober 2015

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