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Die Sozialgesetzgebung

Schlechte Bedingungen in Fabriken mit Arbeitszeiten von 12 bis 14 Stunden, Sonntagsarbeit und ein gesundheitsschädigendes Arbeitsumfeld lösten im 19. Jahrhundert immer wieder Proteste und Streiks aus und führten zur Bildung einer Arbeiterbewegung. In Folge der wirtschaftlichen Depression von 1873 verschärfte sich der Klassenkonflikt. Reichskanzler Otto von Bismarck ging seit 1878 mit dem von ihm initiierten Sozialistengesetz rigoros gegen alle sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und Vereine vor. Durch ihre politischen Forderungen sah er die bestehende Gesellschaftsordnung gefährdet. Bismarck wollte die Freiheit der Unternehmer nicht durch die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit, die Festlegung von Mindestlöhnen und ähnliche Maßnahmen beschränken. Angesichts des Massenelends und der aus ihm erwachsenden sozialrevolutionären Gefahr hielt aber auch Bismarck sozialpolitisches Handeln für dringend geboten.

 

Dahinter stand die Überlegung, dass die Arbeiter sich dem Staat stärker verpflichtet fühlten, wenn dieser ihnen ein gewisses Maß an Sicherheit garantiere. Als Gegengewicht zu der verschärften Repressionspolitik sollten sozialpolitische Maßnahmen der Arbeiterbewegung die Grundlage entziehen, die Arbeiterschaft ohne politische Konzessionen in den monarchischen Staat integrieren und auf diese Weise den inneren Zusammenhalt des Staates garantieren.

Auf Bismarcks Initiative verabschiedete der Reichstag am 15. Juni 1883 ein Gesetz über die Krankenversicherung für Arbeiter, nicht für Angestellte. Gewerbliche Arbeiter, die länger als eine Woche beschäftigt waren und nicht mehr als 2.000 Mark jährlich verdienten, unterlagen von nun an der Versicherungspflicht. Bezahlt wurden die Beiträge zu zwei Dritteln von den Arbeitern selbst und zu einem Drittel vom Arbeitgeber. Anders als bei den bereits existierenden Betriebskrankenkassen erwarben die Arbeitnehmer durch ihre Beiträge in die von öffentlich-rechtlicher Körperschaft getragene gesetzliche Krankenversicherung einen Rechtsanspruch auf Leistungen, der auch bei einem Arbeitsplatzwechsel erhalten blieb. Im Krankheitsfall trug die Kasse die Kosten der ärztlichen Behandlung sowie der Medikamente. Bei Arbeitsunfähigkeit bezahlte sie vom dritten Tag der Krankheit an für höchstens 13 Wochen Krankengeld in Höhe von 50 Prozent des durchschnittlichen Lohnes, höchstens aber zwei Mark pro Arbeitstag. Das Existenzminimum für eine vierköpfige Familie lag bei rund 25 Mark in der Woche, das Krankengeld bewahrte also nicht vor materieller Not. Aber der Krankenversicherung war es zu verdanken, dass eine ärztliche Behandlung nun zumindest auch für versicherte Arbeiter die Regel werden konnte.

Ein Jahr nach dem Krankenversicherungsgesetz trat am 6. Juli 1884 das Unfallversicherungsgesetz in Kraft. Beitragspflichtig waren nur die Unternehmer. Bei einem Betriebsunfall wurden der Verunglückte unabhängig von der Schuldfrage ab der 14. Woche und damit nach Ablauf der Krankenversicherung entschädigt. Die Unfallversicherung, eine Berufsgenossenschaft der Unternehmer, trug die Kosten des Heilverfahrens oder zwei Drittel des Arbeitslohnes als Rente bei völliger Erwerbsunfähigkeit. Bei einem tödlichen Betriebsunfall kamen Gelder den Hinterbliebenen zugute: Witwen erhielten 20 Prozent des Verdienstes ihres Mannes. Die Unfallversicherung galt zunächst nur für Fabriken, Bergwerke und Steinbrüche, wurde bald darauf aber auch auf Arbeiter in der Forst- und Landwirtschaft übertragen.

Die Verabschiedung des Gesetzes über die Alters- und Invalidenversicherung wurde immer wieder nach hinten verschoben. Erst am 24. Mai 1889 verabschiedete es der Reichstag unter dem unmittelbaren Eindruck eines Aufsehen erregenden Streiks von Bergarbeitern im Ruhrgebiet. Die Versicherung war verpflichtend für alle Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen unter 2.000 Mark. Die Altersrente konnte nach 30 Beitragszahlungen und Vollendung des 70. Lebensjahrs in Anspruch genommen werden. Als Invalidität galt die Verminderung der Erwerbsfähigkeit um zwei Drittel. In diesem Fall zahlte die Versicherung nach mindestens fünf Jahren Beitragszahlung ein Drittel des Durchschnittslohns als Rente. Für jede Invaliden- und Altersrente leistete der Staat einen jährlichen Grundbetrag von 50 Mark. Der Rest wurde je zur Hälfte von den Versicherten und ihren Arbeitgebern aufgebracht.

Bis in die 1880er Jahre waren Arbeiter, wenn sie durch Unfall oder im Alter arbeitsunfähig wurden, ihrer Existenz bedroht gewesen. Nun waren 4,7 Millionen gewerbliche Arbeiter gesetzlich versichert. Die Sozialgesetzgebung machte die soziale Absicherung der Arbeiter zur Aufgabe des Staates. Diese neue Staatsräson wurde den anderen europäischen Staaten zum Vorbild. Im Kaiserreich stießen die Sozialversicherungsgesetze dennoch auf massive Kritik: Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung wollten die Gesetze nicht als Ersatz für umfassende politische Reformen und Rechtsgleichheit akzeptieren. Sie forderten zudem umfassende Arbeitsschutzmaßnamen in den Betrieben und eine Verkürzung der Arbeitszeit, was Bismarck kategorisch ablehnte. Der Achtstundentag und die Anerkennung der Gewerkschaften konnten erst im Rahmen der Revolution von 1918/19 durchgesetzt werden. Die Liberalen hielten die Gesetze für zu arbeiterfreundlich und kritisierten einen darin verborgenen "Staatssozialismus". Bismarck selbst geriet mit dem jungen Kaiser Wilhelm II. in Konflikt, der sich zunächst "arbeitnehmerfreundlich" zeigte und sich für Arbeitsschutzmaßnahmen aussprach. Diese setzte er nach Bismarcks Entlassung 1890 durch. Dazu gehörte die Beschränkung der Kinderarbeit, die Verordnung der Sonntagsruhe und die Festlegung einer Maximalarbeitszeit von elf Stunden am Tag.

Katharina Draheim
14. September 2014

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