Leipziger Straße 4, Berlin

Der Deutsche Reichstag 1889 in den Bildern von Julius Braatz

Carola Jüllig und Juliane Hähnlein | 13. Januar 2021

Im Januar 2020 erhielt das DHM das Angebot, eine ganz besondere Fotomappe zu erwerben. Aus dem Besitz der Familie von Bismarck wurde eine Sammlung an Aufnahmen des alten Reichstags – des Gebäudes und der Menschen – angeboten, die bereits unter dem Namen „Der Deutsche Reichstag und sein Heim“ bekannt war und nun ein bedeutsames Objekt in der Fotosammlung des DHM darstellt. Für den DHM-Blog werfen Juliane Hähnlein, bis Oktober 2020 als wissenschaftliche Volontärin am DHM, und Carola Jüllig, Sammlungsleiterin Bild, einen Blick ins Bismarck’sche Familienalbum und auf einen wenig bekannten Aspekt deutscher Geschichte.

Auf insgesamt 184 Bildern hielt der Fotograf Julius Braatz (1844-1914) im April und Mai 1889 die Abgeordneten, Bediensteten und die Räumlichkeiten des alten Reichstagsgebäudes in der Leipziger Straße 4 in Berlin fest. Einige wurden an dem Tag aufgenommen, als Reichskanzler Otto von Bismarck zum letzten Mal das Gebäude betrat, am 18. Mai 1889.

Dass Julius Braatz überhaupt die Möglichkeit gegeben wurde, die Fotografien anzufertigen, stellt eine Neuerung und Besonderheit sowohl im Reichstag als auch in der Fotografie dar. Noch nie zuvor war ein Fotograf in die Arbeitsräume der Abgeordneten und sogar Bismarcks vorgedrungen; Braatz selbst hatte die Initiative ergriffen, um den Reichstag vor seinem Umzug in den Neubau in „Momentaufnahmen“ zu dokumentieren.

Das alte Reichstagsgebäude

Der Reichstag nutzte das Haus in der Leipziger Straße 4, bis 1894 der Wallot-Bau am Königsplatz fertiggestellt war, der zukünftig das Deutsche Reich repräsentieren und den Reichstag beherbergen sollte. Das alte Gebäude in der Leipziger Straße verfügte über einen Plenarsaal, Aufenthalts-, Nutz-, Verwaltungs- und Bibliotheksräume sowie ein großzügiges Foyer, in dem die meisten von Braatz‘ Gruppenbildern entstanden. Das Reichstagsgebäude in der Leipziger Straße 4 verschwand nach dem Umzug der Parlamentarier schnell aus der öffentlichen Erinnerung, weil es keine Aufnahme vom Äußeren dieses Hauses gibt, das ursprünglich für die Königlich-Preußische Porzellanmanufaktur errichtet worden war. Braatz‘ Aufnahmen zeigen einige Funktionsräume, wie etwa Schreib- und Lesezimmer, und sogar die Versorgung der Abgeordneten in der „Restauration“.

Die Abgeordneten

Seit 1874 gehörten jeweils 397 Abgeordnete dem Reichstag an. Da bis 1906 die Zahlung von Diäten verboten war, waren nicht begüterte Kandidaten benachteiligt. Trotzdem saßen neben den zahlreichen Guts- und Fabrikbesitzern auch einige Künstler, Landwirte oder Handwerker im Reichstag, so auch der Journalist Wilhelm Liebknecht und der Drechslermeister August Bebel. Bei der Wahl 1887 konnten die Sozialdemokraten 10 Prozent der Stimmen gewinnen und stellten elf Abgeordnete; Konservative und Nationalliberale erhielten 220 Mandate, das Zentrum 98.

In den geschlossenen Parlamentsräumen waren lange Belichtungszeiten notwendig, weshalb die Abgeordneten für die Aufnahmen einen Moment stillhalten mussten. Dass dies nicht immer gelang, zeigen teils verschiedene verschwommene Gesichtszüge, die gerade den besonderen Reiz der Fotos ausmachen. Um größere Mängel auszugleichen, griff Braatz bei manchen Aufnahmen zur Montage: Er ersetzte einige verwackelte Köpfe mit Aufnahmen aus anderen Fotografien.

Die Gruppenaufnahmen wurden meist nach Fraktionszugehörigkeit zusammengestellt, so dass Braatz die Abgeordneten – würdevoll blickende, oft bärtige ältere Männer im formalen Anzug – aus dem konservativen oder nationalliberalen Spektrum am häufigsten fotografierte. Vor allem in diesem adeligen und großbürgerlichen Milieu erhoffte Braatz, Abnehmer seiner teuren Fotografien zu finden.

Das Parlament

Julius Braatz‘ Aufnahmen ermöglichen einen Blick in das Innenleben des Deutschen Kaiserreichs und seiner Verfassung anno 1871. Laut der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 standen dem (vom Kaiser eingesetzten) Reichskanzler – damals bereits Otto von Bismarck – Bundesrat und Reichstag gegenüber, ohne deren Zustimmung kein Gesetz verabschiedet werden konnte. Der Reichstag wurde in einem damals als fortschrittlich und modern geltenden allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht gewählt: Deutsche Männer ab 25 Jahren waren wahlberechtigt, und nur Männer konnten sich zur Wahl stellen. Das spiegeln auch Braatz‘ Bilder wider, auf denen meist nur Männer zu sehen sind. In der konstitutionellen Monarchie verfügte der Reichstag jedoch nur über begrenzte Parlamentsrechte, sein Einfluss etwa in Fragen der Außenpolitik oder des Militäretats war beschränkt.

Taktische Manöver Bismarcks und die ausgeprägte Konkurrenz der Parteien untereinander erleichterten der Regierung oft die Durchsetzung ihrer Ziele. Im äußersten Falle konnte der Bundesrat die Auflösung des Parlaments bestimmen. Tatsächlich wurde der Reichstag zwischen 1878 und 1906 vier Mal aufgelöst, jedes Mal ging es dabei um Fragen des Militärs und des Wehretats, die nach den vorgezogenen Neuwahlen jeweils im Sinne der Regierung entschieden wurden.

Bismarcks letzter Tag

Am 18. Mai 1889 hielt der Reichskanzler – der ja selbst kein Mitglied des Reichstages war – seine letzte Rede vor dem Plenum, um für sein Vorhaben, die Invaliditäts- und Altersversicherung, zu werben. Es war die dritte Lesung des Gesetzentwurfs und die Debatte dauerte bereits zweieinhalb Stunden, als Bismarck den Saal betrat, um eine Rede zu halten, die seine Anhänger mit „lebhaften Bravo“ kommentierten. Julius Braatz war zur Stelle, da er gerade von der Journalistentribüne aus das Plenum fotografiert hatte. Leider befindet sich keine dieser Aufnahmen in der überlieferten Mappe; immerhin ist die Fotografie des Reichskanzlers erhalten, die Braatz nach dessen Rede im Foyer anfertigte, sowie eine Aufnahme Bismarcks mit seinem Stellvertreter, dem Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Bötticher, ebenfalls am 18. Mai entstanden. Die Gesetzesvorlage wurde übrigens am 24. Mai 1889 mit großer Mehrheit angenommen; Bismarck wurde im März des folgenden Jahres von Wilhelm II. als Reichskanzler entlassen.

Der Weg in die Fotosammlung des Deutschen Historischen Museums

Noch im selben Jahr 1889 veröffentlichte der Fotograf das Ergebnis seiner Arbeit im Eigenverlag. Wie viele Exemplare Braatz hergestellt hatte, ist unbekannt; erhalten haben sich neben dem (unvollständigen) im DHM wohl nur zwei weitere, ebenfalls nicht vollständige Sätze. Die großformatigen, auf Karton aufgezogenen Albuminabzüge richteten sich nach Angaben des Herausgebers „an alle Klassen des Volkes, welche sich für Politik interessieren“. Doch der teure Band blieb nur den wohlhabenderen Schichten vorbehalten: So wurde ein Exemplar in einer goldgeprägten Mappe Otto von Bismarck zum Abschied aus dem Reichstag geschenkt. Aus dem Besitz des ehemaligen Reichskanzlers gelangte die Mappe in die Sammlung des DHM, wo die Fotografien zukünftig für Ausstellungen, aber auch für die Forschung zur Verfügung stehen.

Biografie

Hermann Julius Braatz wurde 1844 in Müncheberg geboren, nahm an Kriegseinsätzen teil und wurde 1872 als Invalide aus der Armee entlassen. Schon zwei Jahre später besaß er drei fotografische Ateliers und durfte den Titel „Hof-Photograph des Prinzen Friedrich Carl v. Preußen“ führen, den er sich durch die Anfertigung einiger Porträts des Prinzen verdient hatte und der ihm Zutritt zu höheren Kreisen ermöglichte. 1888 erhielt er die Erlaubnis, den Ritterschlag des Prinzen Heinrich von Preußen in der Neumark zu fotografieren. Dies war der Beginn der politischen Ereignisfotografie, die von nun an Braatz‘ bevorzugtes Tätigkeitsfeld darstellte.