DAS JAHR OHNE SOMMER: WIE EUROPA IM KLIMACHAOS VERSANK

Wir schreiben das Jahr 1816. Nach den gewaltigen Kriegen und Umwälzungen der napoleonischen Zeit sehnen sich die Menschen in Europa nach Stabilität. Es kommt anders: Der alte Kontinent erlebt eine Hungersnot längst vergessenen Ausmaßes, soziale Verwerfungen, Flüchtlingsströme. Schuld ist eine Klimakatastrophe, die Zeitgenossen vor ein Rätsel stellt. Die südwestdeutschen Gebiete trifft das „Jahr ohne Sommer“ besonders schwer.

Ein monotones Donnern zieht über Oberschwaben auf, wiederholt sich im Crescendo, türmt sich rhythmisch hallend zu einer Schallwand auf. Innerhalb von Augenblicken verschwindet auch der letzte Funken Licht am Himmel, dann senden schwarze Wolken sintflutartige Regenfälle, schließlich Eisregen auf den hoffnungslos durchgeweichten Erdboden hinab. Blitzzacken, den Himmel zerschneidend wie glitzernde Speere, machen das verhängnisvolle Naturspektakel vollkommen.

KATASTROPHE BIBLISCHEN AUSMASSES

Erst knappe vier Monate ist das Jahr 1816 alt und schon jetzt droht es für die Einwohner Oberschwabens ein Katastrophenjahr biblischen Ausmaßes zu werden. Seit Wochen ziehen schwere Unwetter über das Land, die Temperaturen bewegen sich kaum über dem Gefrierpunkt. Noch wäre die Ernte wenigstens halbwegs zu retten, der drohende Hunger abzuwenden – wenn doch nur endlich der Frühling kommen würde. Die Oberschwaben hoffen vergeblich: Erbarmungslos regnet und stürmt es auch in den Folgemonaten weiter, auf der Schwäbischen Alb fällt im Juli sogar Schnee. Die Ernte, das wird spätestens jetzt deutlich, wird fast vollständig ausfallen. Die Folgen sind fatal, nicht nur für die Gegend am Rande der Alpen, sondern für ganz Mittel- und Westeuropa.

Die süddeutschen Staaten jedoch – vor allem das Königreich Württemberg, dessen Teil Oberschwaben ist, sowie das benachbarte Großherzogtum Baden – leiden besonders stark. Anders als heute gehören die Regionen Anfang des 19. Jahrhunderts zu den Armenhäusern Europas. Die Missernten der letzten Jahre, Napoleons Kriege sowie die Ausbeutung der Länder unter französischer Herrschaft haben Baden und Württemberg besonders in Mitleidenschaft gezogen. Jetzt also auch noch eine weitere, besonders schlimme Missernte, von der mit Obst, Wein und Getreide alle wichtigen Anbauprodukte betroffen sind.

HUNGERSNOT UND EXODUS

Auf den Ernteausfall folgen Hunger und Chaos: Die Getreidepreise steigen dramatisch, Vieh geht ein oder muss notgeschlachtet werden, es kommt zu Plünderungen. Bald bricht die Versorgung völlig zusammen. In ihrem Dilemma versuchen die Menschen aus Stroh und Baumrinde Brot herzustellen, essen Moos und Gras. Die Anzahl der Todesfälle schnellt in die Höhe, in Württemberg gibt es 1816/17 sogar mehr Tote als Neugeborene – für die damalige Zeit extrem ungewöhnlich. Es folgt eine massenhafte Emigration: In Scharen verlassen die Menschen den Südwesten der heutigen Bundesrepublik, vor allem in Richtung Russland und USA. Baden und Württemberg stehen vor dem Exodus.

Über den Grund für den folgenreichen Ausfall des Sommers herrscht derweil völlige Unklarheit. Vor allem die Landbevölkerung bemüht übernatürliche Erklärungsmuster, sieht in den massiven Unwettern eine göttliche Strafe. Dass jedoch eine Naturkatastrophe am anderen Ende der Welt Schuld am miserablen Wetter sein könnte, ahnt niemand. Und doch ist die gewaltige Eruption des Tambora, die sich im April 1815 auf der heute zu Indonesien gehörenden Insel Sumbawa ereignete, der Grund für das aktuelle Dilemma in Europa.

VULKANAUSBRUCH DER EXTREME

Die heftigen oberschwäbischen Gewitter des Frühjahrs 1816 dürften verglichen mit dem monumentalen Ausbruch des Tambora ein Jahr zuvor kaum mehr als ein Rascheln des Himmels gewesen sein: Als der Brite Thomas Stamford Raffles, Gouverneur des Inselreichs Java, zu dem Sumbawa damals gehörte, den Ausbruch in seiner extremen Lautstärke vernahm, vermutete er einen Kanonenbeschuss in unmittelbarer Nähe. Dabei war Stamford Raffles zu diesem Zeitpunkt rund 800 Kilometer vom berstenden Tambora entfernt. Mehr als eine Woche versprühte der Vulkan in Form riesiger, bis zu 43 Kilometer hoher Feuersäulen derartige Mengen an Gestein, Magma und Gas, dass er nach dem Ausbruch um die Hälfte seiner einstigen Höhe beraubt war. Heute steht fest: Seine Eruption war eine der größten Vulkanexplosionen der jüngsten Menschheitsgeschichte.

Die Auswirkungen der Naturkatastrophe waren immens: Auf der Insel Sumbawa und dem nahe gelegenen Eiland Lombok starben über 70.000 Menschen. Darüber hinaus verursachte der Ausbruch einen Tsunami, der noch am 10. April die dichtbevölkerte Insel Java erreichte. Geschätzte 100.000 Menschen verloren in den Fluten ihr Leben. Noch einmal die gleiche Zahl an Menschen starb in den anschließenden Monaten der Seuche in ganz Südostasien.

SCHWEFELGASE ZIEHEN NACH EUROPA

Nicht zuletzt waren beim Ausbruch des Tambora riesige Mengen an Schwefelgasen freigesetzt worden. Diese gelangten in die Atmosphäre, verbanden sich mit Feuchtigkeit und Schwebeteilchen und zogen als sogenannte Aerosol-Wolken um den Erdball. 1816 erreichten diese die Nordhalbkugel, wo sie sich festsetzten und große Mengen Sonnenlicht absorbierten. In der Folge geriet das europäische Wetter völlig aus den Fugen.

Von alledem ahnten die Badener, die Württemberger und die restlichen Europäer nichts. Zwar war die Kenntnis über den Ausbruch des Tambora durchaus in die höheren Kreise des Kontinents vorgedrungen. Einen Zusammenhang zu dem höchst sonderbaren Wetter in Europa stellte freilich niemand her. Ohnehin gab es drängendere Probleme als die Ursachenforschung: In weiten Teilen des alten Kontinents herrschte Chaos. Die Teuerung nahm weiter zu, viele Menschen verloren Hab und Gut und spätestens ab 1817 zogen immer größere Heerscharen von Bettlern durch die Städte. Auch der Antisemitismus flammte auf: Juden wurden als Getreide hamsternde „Kornjuden“ diffamiert, 1819 kam es vielerorts sogar zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung.

Mitunter war die große Hungersnot jedoch auch Ausgangspunkt für Neuanfänge. Nachdem König Wilhelm I. im Oktober 1816 den württembergischen Thron bestiegen hatte, setzte er eine weitreichende Professionalisierung der Landwirtschaft in Gang. Außerdem ließ er eine neue Verfassung erarbeiten, reformierte die Verwaltung und baute die Staatsschulden ab. Die Folge: Württemberg wandelte sich unter Wilhelms Regentschaft zu einem aufstrebenden Staat.

DIE KUNST DER KATASTROPHE

Zu den wenigen Lichtblicken der Hungerjahre gehört ebenso, dass im Eindruck des katastrophalen Klimas mitunter große Kunst entstand. So erstrahlt Caspar David Friedrichs in Greifswald gezeichnetes Meisterwerk „Ansicht eines Hafens“ nur deshalb in derart faszinierenden Himmelsfärbungen, da die Eruption des Tambora die Sonnenuntergänge an der Ostsee tatsächlich in ein glühend-gelbes Spektakel verwandelt hatte. Auch die Literatur ist dank der Nachwirkungen des Ausbruchs um einen Klassiker reicher: So verbrachte die Engländerin Mary Shelley den Sommer des Jahres 1816 in der Schweiz. Dort war das Wetter derart niederschlagend, dass sich im Geiste Shelleys eine besonders düstere Handlung entspann – die 1818 unter dem Titel „Frankenstein“ als Roman erschien. Hätten die unweit der Schweiz lebenden Oberschwaben Einblick in Shelleys schaurig-morbide Gedankenwelt gehabt, sie hätten für derartige Ideen sicher vollstes Verständnis gezeigt.