Presse, Bilder, Öffentlichkeit – Vom wandelnden Wert der Fotografie im digitalen Zeitalter

Am 19. August wird weltweit jährlich der internationale Tag der Fotografie gefeiert. Er geht zurück auf das Event des australischen Fotografen Korske Ara aus dem Jahr 2009, der dieses Datum wählte, weil am 19. August 1839 die Pariser Akademie der Wissenschaften und der schönen Künste das Patent für die Daguerreotypie erhielt und der Allgemeinheit zur Verfügung stellte. Unsere Kolumnistin Nadia S. Zaboura nimmt diesen Tag zum Anlass, um nach dem heutigen Wert der Fotografie im digitalen Zeitalter zu fragen.

„Das Wesen der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild.“ Martin Heidegger

Leicht hat sie es derzeit nicht: die Presse. Viele Veränderungen rütteln an der vierten Gewalt und ihrem Auftrag: der freien Beschaffung und Verbreitung von Information. Der Wandel, dem die nationale und globale Presselandschaft unterliegt, ist gleichzeitig Gefahr und Chance. Er kann demokratische Strukturen destabilisieren aber auch reformieren. Er kann den Fluss an Inhalten transparenter aber auch opaker, undurchsichtiger machen. Und er kann die Deutung der Welt in Informationsmonopolen uniform bündeln aber auch auf vielen Schultern mit diversen Perspektiven verteilen.

Pressefotografie: Von Blickwinkeln und Vertrauen

Besonders anschaulich kristallisieren sich diese Entwicklungen anhand einer Disziplin: der Pressefotografie. War die rein-textbasierte Presse vor 1880 noch Standard, sind Publikationen ohne Fotografien heutzutage undenkbar. Man stelle sich dazu nur eine beliebige Zeitung, Zeitschrift oder News-Seite ohne Bilder vor – unendliche, bleierne Text-Wüsten, so weit das Auge reicht.

Dabei verlangt das Leserhirn stets nach Kontext und damit auch nach Visualisierung. So definierte die Schriftstellerin und Publizistin Susan Sontag in ihrem Standardwerk „Über Fotografie“: „Ein Ereignis, das wir durch Fotografien kennen, erlangt für uns zweifellos mehr Realität, als wenn wir diese Bilder nie gesehen hätten.“

Damit beleuchtete Sontag eine wichtige Dimension und Relation zwischen Pressefotograf und Rezipient – das Vertrauen. Mit jedem Blick geht ein Vertrauensvorschuss einher, dass das Gezeigte tatsächlich ein unverfälschtes und angemessenes Abbild eines realen Geschehens sei. Doch wo fängt die reine Abbildung an und wo beginnt die Inszenierung? Ab wann reden wir von Manipulation durch Bildmacht und welche verbindlichen Kriterien werden dabei angewandt?

Diesen epistemologischen Spagat muss die Pressefotografie – mit jedem Auslöserklick, mit jedem gewählten Blickwinkel, mit jedem gesetzten Bildausschnitt neu tätigen, sich neu verdienen – mehr denn jede andere fotografische Disziplin. Und das seit Anbeginn des 19. Jahrhunderts, als eine fortschreitende Technik erst Bildnachrichten und sukzessive den Beruf des Pressefotografen ermöglichte.

Es werde Licht! Blitze aus Magnesium und Erkenntnis

Wie stark Bilder, Verantwortung und Geschichte nun miteinander verwoben sind und welchen erheblichen Einfluss Pressefotos als Medium der visuellen Öffentlichkeit ausüben, das erkennt man schnell an ikonischen Werken:

Der niedergestreckte Sonny Liston, über dem ein siegender, energetisierter Muhammad Ali seinen roten Boxhandschuh schwingt. Der „Tank Man“, dieser einzelne Mann vor vier Panzern stehend, eingefangen von Jeff Widener am Tag nach dem Tian’anmen-Massaker. John Dominis’ kraftvolles „Black Power Salute“ zweier Sportler auf der Olympia-Siegertreppe im Jahr 1968 oder auch das komplexe Foto „Migrant Mother“ über ein stellvertretendes Schicksal während der Great Depression von Dorothea Lange, aktueller denn je.

Diese Momentaufnahmen sind Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses, mit einer vereinenden Eigenschaft: Pressefotos bringen auf besondere Art und Weise komplexe Inhalte visuell auf Punkt und Pixel, sie verdichten Informationen, rahmen Zusammenhänge und: sie erschaffen und verändern Geschichte. Ein hohes Maß an Verantwortung also gegenüber der Historie und ihrer Interpretation.

Fast romantisch mutet da die griechische Wortwurzel dieses Berufsfeldes an, wird der Fotograf im Moment des verewigten Augenblicks doch zum „Lichtzeichner“. Nutzte er dabei zu Beginn noch das Blitzlichtpulver (nicht stets sicher) und später die Blitzlichtbirne (lang und grell), stehen ihm in der heutigen digitalen Ära diverse Möglichkeiten zur Beleuchtung einer Situation zur Verfügung – im doppelten Wortsinn. Gegenüber der frühen Fotografie und ihren Methoden wie dem Abwedeln oder dem Einsatz von Vaseline und Nylonstrümpfen zwecks Weichzeichnung, lassen sich Fotos heute deutlich leichter verändern. Dank nachgelagerter Bildbearbeitung mit Photoshop, Lightroom & Co. geschieht das in deutlich kürzerer Zeit und mit minimalem Aufwand am Monitor.

Und manchmal erlangen Bilder dort auch eine vollkommen neue Bedeutung. So hat sich die visuelle Kultur im „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ neue Rahmenbedingungen geschaffen: Das ehemals aufwändig erstellte Einzelexemplar wird ergänzt um digitale Massenware (Stockphotos) und massenhaft verbreitbare Fotos, oftmals ohne Verifizierungsmöglichkeit oder prüfbare Bildquelle. Zusätzlich treten Profis zunehmend in Konkurrenz zu Autodidakten – potenziell jede Person, die eigenes Fotoequipment oder ein Smartphone mit Kamerafunktion besitzt – und zunehmend auch mit künstlicher Intelligenz, die Bilder und Bildsequenzen simuliert, teils in Echtzeit.

Neue Formate, neue Verantwortung und eine Ethik des Bildes

Die Pressefotografie befindet sich also wie die gesamte Presse in einer Umbruchsituation. Was gezeigt und was gesehen wird, das obliegt nicht mehr maßgeblich dem Fotograf, einer Redaktion und einem Verlag. Die ehemalige Deutungshoheit verteilt sich neu, das Informationsgeschäft erhält neue Protagonisten.

Die demokratische Herausforderung dieser Entwicklung ist nicht zu unterschätzen. Noch aktueller, noch virulenter stellen sich Fragen nach der Macht der Bilder: Welche gesellschaftlichen, politischen, marktwirtschaftlichen Akteure tummeln sich mit welchem Ziel in der öffentlichen Meinungsbildung? Welches Bild verordnet dem Leser Blindheit, weil ein wichtiger Aspekt außerhalb des gewählten Ausschnittes liegt, ein relevanter Kontext verschleiert wird? Und ganz praktisch: Welche Bedeutung tragen statische Print-Fotografien, während sich im Web neue News- und Bild-Formate rasant verbreiten? (Beispielhaft genannt seien an dieser Stelle GIFs, diese kleinen Bildsequenzen, die Momentaufnahmen kontextuell erweitern aber auch eine Bedeutungsverschiebung auf minimalste Gesten vornehmen.)

In der Reflexion dieser Fragen ruht eine nicht gehobene Chance für die Pressefotografie: Sie kann sich wieder gewahr werden, dass sie nie reine Dokumentation, sondern immer auch Interpretation ist. Sie kann mit professionellem Anspruch ihre Interpretationsmaßstäbe hinterfragen, fortlaufend prüfen und situativ anpassen. Sie kann sich gegen hochgejazzte Motive und für neue Situationen fernab etablierter politischer und gesellschaftlicher Bühnen entscheiden, für überraschende Blickwinkel. (Nichts anderes verfolgt die so genannte Street Photography als Bewegung des Authentischen, des Moments.)

Und nicht zuletzt vermag eine transparente, authentische Bildberichterstattung neues Vertrauen zu erwecken. Die Pressefotografie erfindet sich neu als Foto-Kreator und als Foto-Kurator mit hohem Qualitätsanspruch, entwickelt sich zum Begleiter durch die fortwährende, ansteigende Bilder- und Bedeutungsflut. Vertrauen also als kostbares Gut und Orientierungsmaßstab, Vertrauen als altes neues Alleinstellungsmerkmal unter privatwirtschaftlichen Entscheidern dessen, was gesehen werden darf und was nicht (am Beispiel von Facebook’s umstrittener Zensur des Fotos „The Terror of War“ von Nick Út, die den Blick auf rennende Kinder nach einem Napalm-Angriff unweit von Saigon temporär verbot).

Mit dem selbst gelebten Respekt vor den Bildern entsteht fruchtbarer Grund für eine neue Bildethik und Kurationsethik. Und wenn alles gut läuft, führt dies automatisch zu einer größeren Betrachtungskompetenz beim Rezipienten. Vielleicht kommen wir dann wieder zu einer Sehmethode, die Schiller 1789 im Gedicht „Die Künstler“ als „denkend weilet“ beschrieb.

Eine besondere Möglichkeit, den eigenen Blick weilend zu testen und die eigene Betrachtungskompetenz an 345 ausgewählten Bildern der Pressefotografie zu schärfen, bietet die aktuelle Ausstellung „Die Erfindung der Pressefotografie“ im Deutschen Historischen Museum.

Literatur

• Walter Benjamin – Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
• Georg Kurscheidt et al. – Schillers Werke. Nationalausgabe: Historisch-kritische Ausgabe
• Susan Sontag – Über Fotografie: Essays

Nadia S. Zaboura

ist freie Strategie- und Kommunikationsberaterin sowie Fach-Moderatorin – im Auftrag von Wirtschaft, Politik und Forschung. Neben strategischer und standortpolitischer Beratung in den Märkten Medien, IT, Games und Gesundheit bietet sie themenübergreifende Expertise für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft – als Fach-Moderatorin und Referentin (Fraunhofer, ZDF, ZKM, BMFSFJ etc.). Darüber hinaus ist Nadia S. Zaboura regelmäßig tätig als Managerin und Kuratorin führender Kongresse (u.a. SXSW Interactive, CREATIVE.HEALTH, Gamescom Congress).
Im Jahr 2015 berief sie die Europäische Kommission zur Evaluatorin. In dieser Funktion entscheidet sie über Horizon 2020, das europäische Rahmenprogramm für Forschung und Innovation. Zuvor war Zaboura berufene Juryvorsitzende und Jurorin des „Grimme Online Award“ (2012 bis 2015) sowie Jurorin des „Deutschen Radiopreis“ (2013 bis 2015).
Ihr Portfolio, aktuelle Projekte und Texte finden sich unter www.zaboura.de.