Den Frühling überleben

Das lange Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa

 Thomas Jander | 5. Mai 2020

1945 war das letzte Jahr des Zweiten Weltkrieges. Als es begann, war alles andere als ein Sieg der Alliierten bereits unmöglich – zu groß war ihre Überlegenheit, zu unterlegen waren die Reste der deutschen Streitkräfte. Und doch dauerte es noch viereinhalb Monate bis die letzten Schüsse fielen. Bis dahin forderte der Krieg zahllose weitere Opfer. Thomas Jander, Sammlungsleiter und Kurator der Intervention „Deportiert nach Auschwitz“ schreibt über den langen Weg zum Schweigen der Waffen in Europa mit einem Blick auf die Geschichte der Holocaust-Überlebenden Sheindi Miller-Ehrenwald.

Der Zweite Weltkrieg endete in Europa offiziell, als am 9. Mai 1945, kurz nach Mitternacht, im Berliner Stadtteil Karlshorst, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) Keitel mit Vertretern der Luftwaffe und der Kriegsmarine an seiner Seite, vor dem sowjetischen Oberbefehlshaber Žukov die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Streitkräfte unterzeichnete. Zwar hatten etwa 22 Stunden zuvor die Truppen der Wehrmacht vor dem US-General Eisenhower im französischen Reims bereits vollständig kapituliert, doch Josef Stalin bestand – aus Misstrauen gegenüber den Verbündeten, wegen der Bedeutung des Ortes, der Klarstellung der eigenen Rolle und der Symbolkraft der Zeremonie – auf der Wiederholung des Aktes.

Sonderausgabe der US-amerikanischen Truppenzeitschrift „Stars and Stripes“ zum Sieg der alliierten Streitkräfte über das Deutsche Reich vom 7. Mai 1945 © DHM

Sonderausgabe der US-amerikanischen Truppenzeitschrift „Stars and Stripes“ zum Sieg der alliierten Streitkräfte über das Deutsche Reich vom 7. Mai 1945 © DHM

OKW Chef Wilhelm Keitel, General Stumpff und Admiral von Friedeburg bei der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde in Berlin Karlshorst am 8. Mai 1945 © DHM

OKW Chef Wilhelm Keitel, General Stumpff und Admiral von Friedeburg bei der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde in Berlin Karlshorst am 8. Mai 1945 © DHM

Kämpfen

Nach 2077 Tagen Krieg in Europa schwiegen nun die Waffen. Doch für viele Menschen war der Krieg bereits Vergangenheit.

Das lange Ende des Zweiten Weltkrieges erstreckte sich über viele Wochen und wurde in höchst unterschiedlicher Weise erlebt. Gemeinsam aber dürfte wohl in allen Erinnerungen an das Frühjahr 1945 die eigentümliche Mischung aus Ängsten und Hoffnungen gewesen sein: Hofften die einen noch auf den „Endsieg“ und fürchteten die Rache der Sieger, sehnten die Anderen das Ende des so genannten Dritten Reiches herbei und fürchteten, es womöglich nicht mehr zu erleben.

Der Krieg wurde jetzt hauptsächlich um die Städte und Dörfer Deutschlands geführt. Tod und Zerstörung drohte nicht mehr nur aus der Luft, sondern überall, wo deutsche Soldaten den aussichts- und sinnlosen Kampf gegen die alliierten Streitkräfte weiterführten. Und nun richtete sich der Krieg auch gegen Zivilisten, die Hof, Dorf oder Stadt kampflos übergeben wollten. Auf Hitlers Befehle hin sollten die Kämpfe in Deutschland von Seiten der Wehrmachtsverbände mit besonderer Härte und Verbissenheit geführt werden – und sie wurden es auch.

Ausgabe der Berliner Tageszeitung „Das 12 Uhr Blatt“ vom 24. April 1945 mit antisowjetischen Durchhalteparolen © DHM

Ausgabe der Berliner Tageszeitung „Das 12 Uhr Blatt“ vom 24. April 1945 mit antisowjetischen Durchhalteparolen © DHM

Zwar gab es in den letzten Kriegsmonaten bald keine zusammenhängenden Fronten mehr, aber auch im „atomisierten“ Krieg kämpften immer noch genug Soldaten, trotz des immer größer werdenden Mangels an Waffen, Munition und Treibstoff, auch in kleinen Gruppen so lange wie möglich weiter. Vor allem die Jahrgänge 1926 und jünger die später so genannte Flakhelfer- oder Hitlerjugend-Generation, von denen es etwa 650.000 in der Wehrmacht gab, wurden, aufgrund ihrer durchgängig im Nationalsozialismus erlebten Sozialisation besonders gläubig und fanatisiert, immer wieder für opferreiche Abwehr- und Haltegefechte missbraucht. Das Bild von 16- oder 17-jährigen Jungen in zu großen Uniformen, war prägend für diese letzten Tage des Krieges.

Verwundeten-Transportschein für einen 16jährigen Soldaten mit ärztlichem Vermerk für die Amputation des rechten Oberarmes vom 7. April 1945 © DHM

Verwundeten-Transportschein für einen 16-jährigen Soldaten mit ärztlichem Vermerk für die Amputation des rechten Oberarmes vom 7. April 1945 © DHM

Soldat der Roten Armee führt im Mai 1945 Kindersoldaten der Wehrmacht durch Berlin-Reinickendorf zum Abtransport in die Kriegsgefangenschaft © DHM

Soldat der Roten Armee führt im Mai 1945 Kindersoldaten der Wehrmacht durch Berlin-Reinickendorf zum Abtransport in die Kriegsgefangenschaft © DHM

Sterben

Das OKW erstellte, anders als in den Vorjahren, für 1945 keine genauen Analysen über die gefallenen Wehrmachtssoldaten mehr. So geht man heute durch nachträgliche Berechnungen davon aus, dass zwischen Januar und Mai 1945 über 1,1 Millionen Soldaten starben. Anders ausgedrückt, entfielen auf die letzten etwa 130 Tage des Zweiten Weltkrieges in Europa ein Drittel aller gefallenen deutschen Soldaten! Für die Alliierten bedeutete der hartnäckige Widerstand ebenfalls hohe Verluste. Besonders in der Rote Armee fielen hunderttausende Soldaten in den letzten Kriegsmonaten.

Zugleich wurden in den letzten Monaten des Krieges die Luftangriffe der Alliierten noch intensiver als bisher geführt und viele deutsche Städte erlitten erst 1945 die verheerendsten Angriffe des Krieges. Fast eine halbe Million Tonnen Bomben wurden über deutschem Gebiet abgeworfen, das waren in viereinhalb Monaten mehr als im gesamten Jahr 1943 zusammen. Wie viele Menschen dabei starben, ist bis heute ebenfalls nicht genau ermittelt. Schätzungen gehen von etwa 115.000 Toten aus. Am Ende war ein Fünftel aller Wohnungen im Deutschen Reich zerstört.

Junges Paar vor ihrer im April 1945 von Bomben zerstörten Wohnung im Westen Deutschlands © DHM

Junges Paar vor ihrer im April 1945 von Bomben zerstörten Wohnung im Westen Deutschlands © DHM

Die größte Angst hatten die Deutschen, Soldaten wie Zivilisten, vor der Roten Armee: Nach dreieinhalb Jahren Vernichtungs- und Rassenkrieg gegen die Sowjetunion war die Furcht vor Rache nicht unberechtigt. Jedoch war die Gewalt der Sowjetsoldaten, die sich vor allem gegen Frauen richtete, eher ein Zeichen für die Verrohung der Truppe, als vordergründig politisch motiviert. So floh die Bevölkerung massenhaft in Richtung Westen, sobald sich sowjetische Truppen näherten. Anfang März 1945 waren fast 8,5 Millionen Menschen aus den östlichen Gebieten auf der Flucht. Nahezu 1,5 Millionen weitere Flüchtende kamen aus dem Westen und vor dem Bombenkrieg flohen zusätzlich fast fünf Millionen Alte, Frauen und Kinder aus den Städten aufs Land.

Verhießen für die meisten Deutschen das Donnern sowjetischer Geschütze und das Brummen alliierter Bomberverbände Bedrohung und Angst, bedeuteten dieselben Geräusche für andere Hoffnung. Vor allem für die in Konzentrations-, anderen NS-Zwangslagern oder Zuchthäusern Inhaftierten ersehnten durch sie Befreiung und Überleben.

Um bis zuletzt Häftlinge auszubeuten, löste die SS schon seit Sommer 1944 die weiter im Osten wie im Westen liegenden Konzentrationslager sukzessive auf. In „Todesmärschen“ wurden die Häftlinge auf die großen Stamm-KZ und deren zuletzt extrem aufgefächerten Netz an über 500 Außenlagern ins Innere Deutschlands verschleppt. Allein durch ihre extreme körperliche Schwäche starben bei den Transporten, die sie zu Fuß oder in offenen Kohlewaggons erleiden mussten, zehntausende Häftlinge. Die SS-Wachmannschaften ermordeten ihrerseits Kranke und diejenigen, die für das Marschieren zu schwach waren.

Im Zuge dieser Evakuierungstransporte und allgemeinen Auflösungserscheinungen des NS-Regimes kam es zwischen März bis Mai 1945 überall in Deutschland zu besonders grausamen, teils apokalyptischen, so genannten Endphaseverbrechen. Dabei ermordeten Angehörige der SS, der Wehrmacht, des Volkssturms oder von Gliederungen der NSDAP Häftlinge in KZ und Gefängnissen, aber auch Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter oder Deserteure auf oft bestialische Weise. Bis heute ist es unmöglich, die genaue Zahl aller Opfer zu bestimmen. Wir wissen, dass Ende 1944 etwa 714.000 Menschen in den deutschen Konzentrationslagern eingesperrt waren. Vor dem Ende des Krieges starben Schätzungen zu folge wenigstens 250.000 Männer, Frauen und Kinder.

Von SS-Männern, Wehrmachtssoldaten und Angehörigen anderer NS-Organisationen am 13. April 1945 ermordete Häftlinge des KZ Mittelbau-Dora in einer Feldscheune in Isenschnibbe / Gardelegen © DHM

Von SS-Männern, Wehrmachtssoldaten und Angehörigen anderer NS-Organisationen am 13. April 1945 ermordete Häftlinge des KZ Mittelbau-Dora in einer Feldscheune in Isenschnibbe / Gardelegen © DHM

Leichen von aus dem KZ Groß-Rosen evakuierten Häftlingen nach dem Massaker von Abtnaundorf / Leipzig am 18. April 1945 © DHM

Leichen von aus dem KZ Groß-Rosen evakuierten Häftlingen nach dem Massaker von Abtnaundorf / Leipzig am 18. April 1945 © DHM

Überleben

Die Gefahr, als KZ-Häftling den Krieg nicht zu überleben, war besonders hoch: Jeder bzw. jede dritte Inhaftierte (wahrscheinlich aber noch mehr) verlor noch vor dem 8. Mai 1945 das Leben. Das jüdische Mädchen Sheindi Ehrenwald war nicht unter ihnen. Bis zum Nachmittag dieses Tages hatte sie noch auf Befehl der SS-Wachen Maschinen im Werk der Diehl GmbH, einem in Nürnberg ansässigen Rüstungsbetrieb, demontiert, damit diese verladen und abtransportiert werden konnten. Doch nur die Wachen selbst wurden abtransportiert und die Häftlinge waren – von einem auf den anderen Moment – frei.

Die vorangegangenen neun Monate musste Sheindi hinter den Zäunen des Frauenlagers Peterswaldau im niederschlesischen Eulengebirge, ein Außenlager des KZ Groß-Rosen, um ihr Leben fürchten. Sie arbeitete zwangsweise in der Diehl-Fabrik in der Montage und Prüfstelle bei der Produktion von Zeitzündern für Sprenggranaten. Diehl hatte im Sommer 1944 bei der SS Arbeitssklaven aus Auschwitz-Birkenau angefordert. Als so genannter Depothäftling gehörte Sheindi zu jenen, meist aus Ungarn stammenden Frauen, die dort extra für den Bedarf deutscher Unternehmen an Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen zurückbehalten und nicht, wie ihre Eltern, Großeltern, jüngeren Geschwister und andere Verwandte direkt nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet wurden. So wurde sie weiter nach Peterswaldau deportiert.

Als das Jahr 1945 begann, fing Sheindi an, die stark beschädigten Reste ihres Tagebuches, das sie auf abenteuerliche Weise aus dem Ghetto in Ungarn in das Todeslager Auschwitz-Birkenau hinein- und von dort wieder hinausschmuggelte, abzuschreiben.

Zu dieser Zeit wurde Auschwitz-Birkenau evakuiert und die langen Häftlingskolonnen zogen auf den Todesmärschen auch durch Niederschlesien und an Peterswaldau vorbei. Die in den Straßengräben liegen gebliebenen Toten waren vom Lager aus zu sehen. Anfang Februar begann die SS auch den Lagerkomplex Groß-Rosen aufzulösen und etwa die Hälfte der zuletzt etwa 90.000 Häftlinge wurde in andere KZ deportiert, vor allem nach Buchenwald. Doch nicht alle Außenlager wurden aufgelöst und evakuiert. Zum Schluss blieben etwa 35 kleinere Lager bestehen, die am 8. und 9. Mai von Soldaten der Roten Armee befreit werden konnten – Peterswaldau gehörte dazu. Das Tagebuch abzuschreiben bedeutete für Sheindi in diesen unsicheren letzten Kriegswochen ein sehr großes Risiko: Hätte man sie dabei entdeckt, wäre auch sie ermordet worden. Zugleich bedeutete es aber auch, einen Grund mehr zum Durchhalten und Überleben zu haben. Diese Tagebuchabschriften und die Geschichte von Sheindi Ehrenwald präsentiert das Deutsche Historische Museum seit Januar 2020 in einem Bereich der Dauerausstellung und seiner Webseite.

Sheindi lebt heute in Jerusalem, ist Mutter und Großmutter geworden: Ihr neues Leben begann am 8. Mai 1945.

Für viele Überlebende des Krieges war nicht erst der 8. Mai dessen Ende. Und genauso wenig markiert er die zeitgenössisch viel beschworene „Stunde Null“, in der das Leben völlig neu begann. Gleichwohl ist dieser Tag, nachdem er viele Jahre ein in seiner Deutung höchst umstrittenes Gedenkdatum war, ein Fixpunkt für die Erinnerung an vielfaches Leid, zahlreiche Akte der Befreiung und unterschiedlichste Formen des Neubeginns in Deutschland und Europa geworden. In ihm symbolisiert sich die tatsächlich welthistorische Zäsur von 1945.