Die Liste der „Gottbegnadeten“. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik

Wolfgang Brauneis | 1. September 2021

Auf unserem Blog veröffentlichen wir die Rede von Kurator Wolfgang Brauneis, die er bei der Eröffnung der Ausstellung „Die Liste der „Gottbegnadeten“. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik“ am 26. August 2021 hielt.

Sehr geehrte Frau Staatsministerin, sehr geehrter Herr Gross, liebe Kollegen und Kolleginnen, Freude und Freundinnen,

als ich um Ideen für die musikalische Begleitung heute Abend gebeten wurde, habe ich zwei äußerst populäre Schlager aus dem Jahr 1959 vorgeschlagen. Es war das Jahr, als anlässlich der zweiten documenta „Abstraktion als Weltsprache“ proklamiert wurde und der prominenteste Repräsentant einer anderen vermeintlichen „Weltsprache“, Elvis Presley, während seiner Stationierung in Hessen für Aufruhr sorgte. Doch abseits der progressiven, kulturhistorisch kanonisierten Segmente Abstraktion und Rock’n’Roll, abseits von Aufbruchstimmung waren auch anders gelagerte künstlerische und musikalische Ausdrucksformen präsent. Den Evergreen „Wir wollen niemals auseinandergehn“, der erst nach der Ausstrahlung im Wort zum Sonntag zum Topseller wurde, schrieben der Komponist Michael Jary und der Textdichter Bruno Balz für die 17-jährige Heidi Brühl, was zum Bruch zwischen beiden führte. Pochte Balz doch auf Zarah Leander, mit der sie ihre größten Erfolge, wie „Die Große Liebe“ (1942), feierten. Die Hits dieses erfolgreichsten Films der NS-Zeit, „Ich weiß es wird einmal ein Wunder geschehn“ und „Davon geht die Welt nicht unter“, schrieb Bruno Balz wiederum, als er wegen seiner Homosexualität in Gestapo-Haft war.
Selbst mutmaßlich oberflächliche Schlager also haben als Symptome bundesrepublikanischer Befindlichkeiten das Potenzial für historisch-kritische Betrachtungen, und die Parallele zu zahlreichen Werken dieser Ausstellung liegt gewissermaßen auf der Hand: Auch diese waren und sind im Alltag präsent, doch müssen die einzelnen Schichten ihrer mitunter komplexen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte oft noch freigelegt werden.
Je intensiver sie sich nun auf das quasi-archäologische Prinzip der Ausstellung einlassen, desto häufiger werden Sie, im Detail, auch hier auf Widersprüche stoßen: Nach Kriegsende profitierte der Bildhauer Willy Meller beispielsweise – wie auf einer der zwölf biographischen, über die Ausstellungsräume verteilten Stationen zu erfahren ist – von der Bekanntschaft mit dem Maler Franz M. Jansen, der 1937 in der Ausstellung „Entartete Kunst“ und 1959 posthum in Kassel gezeigt wurde. Gleichzeitig fertigte Janssen im besetzten Polen monumentale Wandbilder an. Ebenfalls auf der zweiten documenta war die „Sitzende“ von Henry Moore zu sehen, die der Wuppertaler Stadtbaudezernent Friedrich Hetzelt angekauft und dorthin verliehen hatte. Gleichzeitig ließ Hetzelt, als Architekt im NS unter anderem für Görings Landsitz Carinhall verantwortlich, kurz zuvor Arno Brekers „Pallas Athene“ in Wuppertal errichten – eines unserer Hauptwerke, auf das Sie in dem ersten großen Kapitel „Auftragskunst und Netzwerke“ stoßen. Zur selben Zeit versuchte der Maler Paul Mathias Padua – der wie Meller, Hetzelt und Breker auf der „Gottbegnadeten-Liste“ stand – vergeblich, Bilder in der Jahresausstellung der Müncher Künstlergenossenschaft im Haus der Kunst unterzubringen – wie Sie in dem zweiten großen Kapitel „Ausstellungen und Netzwerke“ erfahren. Gleichzeitig war einer der Organisatoren, Carl Theodor Protzen zwischen 1937 und 44 wie Padua Stammgast in der dortigen „Großen Deutschen Kunstausstellung“, wo Hitler sowohl Protzens „Straßen des Führers“ als auch Paduas „Der Führer spricht“ erworben hat.

Der vermeintliche Grundwiderspruch allerdings, der sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung zieht, zeigt sich schon mit der Freilegung der ersten Schicht und dem Blick auf all die Werke vor und nach 1945: Scheint es doch unvereinbar zu sein, Monumentalfiguren für die NS-Ordensburg Vogelsang und die NS-Gedenkhalle Oberhausen herzustellen; das Reichsparteitagsgelände und die Neue Reichskanzlei, nach Kriegsende dann den Bayerischen Landtag und das Rathaus Aschaffenburg auszugestalten; den skulpturalen Schmuck für die Führerloge der Berliner Oper, fünfzehn Jahre danach für das Portal des Essener Grillo-Theater zu liefern; Monumentalskulpturen für das Gauforum in Weimar zu produzieren und zehn Jahre später am Wettbewerb zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald teilzunehmen; den Gobelin „Du bist Deutschland“ für Hitler und die Gobelins für den Mahler-Saal der wiedererrichteten Staatsoper in Wien zu entwerfen; figürliche Plastiken für Einrichtungen der Wehrmacht und den Bendlerblock anzufertigen – und so weiter, und so weiter. Dass diese Widersprüche überhaupt als solche wahrgenommen werden, liegt auch an der tradierten kunsthistorischen Erzählung, definierte sie sich hierzulande nach 1945 doch explizit über den Bruch mit dem Nationalsozialismus. Das wiederum hatte zur Folge, dass die Kunst des NS lange und die Nachkriegskarrieren derer Vertreter noch länger weitgehend ausgeblendet worden sind.
In der Parallel-Ausstellung wird ein kritischer Blick auf die documenta als eine der prägenden Instanzen der Kanonbildung geworfen, deren Bedeutung sich auch darin zeigt, dass schon Jahre vor der Eröffnung des hiesigen Museums des 20. Jahrhunderts mit Gerhard Richter und Joseph Beuys just die zwei Künstler mit den meisten Teilnahmen gesetzt sind – Namen, die den allermeisten von ihnen geläufig sein dürften. In dieser Ausstellung ist das Thema Kanonbildung ebenfalls, wenngleich implizit, von Bedeutung, wurden die hier behandelten Maler und Bildhauer in der Regel nicht in den kunsthistorischen Kanon aufgenommen. Und obwohl Hermann Kaspar, Adolf Wamper oder Werner Peiner bis in die 70er Jahre hinein tätig waren, sind es Namen, die den meisten von ihnen nicht geläufig sein dürften.
Die Begründung liefert unter anderem der Untertitel der Ausstellung: Sie machten im NS Karriere – und führten nach Kriegsende eine Art Doppelexistenz: Einerseits hatten die Künstler nachwievor Erfolg, andererseits waren sie für die Kunstwissenschaft, wenn überhaupt, Gegenstand einer abgeschlossenen Epoche. Wenn wir nun diese Nachkriegskarrieren in den Fokus rücken, zielen wir nicht auf kollektive emotionale Erfahrungen, auf Empörung oder Exorzismus ab. Auf Attribute wie „NS-Künstler“ oder „Nazi-Kunst“ wurde bewusst verzichtet, auch um etwaige Debatten nach „typischer“ NS-Kunst oder Parteimitgliedschaften gewissermaßen aus dem Fokus zu rücken. Denn letzten Endes ist der Kunstbetrieb des NS lediglich der Ausgangspunkt der Ausstellung.

Nicht nur wegen der titelgebenden „Gottbegnadeten-Liste“ beginnt diese im zweiten Stock mit einer Einführung zu diesem Betrieb. Besagte Liste, die wohl schon kurz nach Kriegsbeginn existierte und 114 bildende Künstler als „unabkömmlich“ definierte, mag nicht bis in das letzte Detail schlüssig sein. Und doch handelt es sich um die komprimierteste, im wahrsten Sinne des Wortes amtliche Übersicht über renommierte Künstler des NS, die in großen Ausstellungen vertreten waren, Aufträge für baubezogene Kunst erhielten, von hochrangigen Funktionären gesammelt wurden und Professuren bekleideten. Die Einführung behandelt auch das Thema Kunst am Bau und den Ausstellungsbetrieb, um die ideologische Bedeutung und Popularität der bildenden Kunst, und damit auch den Status dieser Künstler nach Kriegsende zu vergegenwärtigen.
Es folgen die zwei schon erwähnten großen Kapitel, die sich unserem eigentlichen Gegenstand widmen: den Biografien, den Werken und der Rezeption „gottbegnadeter“ Künstler nach 1945. Dass das Kapitel „Auftragskunst und Netzwerke“ mit Bayern beginnt, ist kein Zufall. Gerade in München lassen sich Kontinuitäten über Jahrzehnte nachzeichnen, geradezu verdichtet in Kaspars 1934 begonnenem und Mitte der 50er Jahre vollendetem Mosaik für den Kongresssaal des Deutschen Museum. Sein 1970 enthüllter Gobelin „Die Frau Musica“, ein Geschenk des bayerischen Staates für die Meistersingerhalle Nürnberg, ist ein weiteres Hauptwerk der Ausstellung. Auch Nordrhein-Westfalen erwies sich im Laufe der Recherchen als eine Art Ballungsgebiet – vor allem, da dort einige Architekten des Nationalsozialismus, auch aus Albert Speers „Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte“ tätig waren und, neben Protagonisten aus Industrie und Wirtschaft, Aufträge für Kunst am Bau und im öffentlichen Raum vergaben.
Die Zwischenwände dieses Kapitels – auch bei dem vorletzten der fünf topografisch gegliederten Räume, zu Berlin – kennzeichnen markante Aussparungen, die eine Art Doppelfunktion erfüllen. In den eingelassenen Vitrinen sehen Sie zahlreiche Zeitungsartikel zu zentralen Werken, gleichzeitig geben sie den Blick frei auf großformatige historische Aufnahmen von Enthüllungen und Errichtungen. So lässt sich veranschaulichen, dass die künstlerischen Produktionen in keinem klandestinen Paralleluniversum ihre Fortsetzung fanden, sondern integraler Bestandteil des gesellschaftlichen, des öffentlichen Lebens waren.
Auftragskunst im Allgemeinen war nach 1945 das Hauptbetätigungsfeld für die Künstler der „Gottbegnadeten-Liste“ – wie der Wiener Maler Rudolf Hermann Eisenmenger im abschließenden Raum, der sich Österreich widmet, in einem Fernsehinterview erläutert. Es handelt sich dabei um einen von vielen, bislang kaum zu sehenden Fernsehbeiträge, die ich ihnen nachdrücklich ans Herz legen möchte und die vor allem das Kapitel, „Ausstellungen und Reaktionen“ im ersten Stockwerk prägen. Dort zeigen wir, dass die Künstler bereits kurz nach Kriegsende, wie Werner Peiner mit seinem 26teiligen Zyklus „Dämonen der Stunde“, bis in die 1980er Jahre in Ausstellungen vertreten waren; und dass diese weitaus häufiger Anlass zu kritischer, überregionaler Rezeption lieferten als die Auftragskunst.
Der letzte Raum, gleichzeitig ein weiteres Herzstück der Ausstellung, gehört dem Hier und Heute. Die beiden Fotografen Thomas Bruns und Eric Tschernow sind quer durch Deutschland und Österreich gereist, um knapp 300 Werke von Künstlern der „Gottbegnadeten-Liste“ – aus dem Nationalsozialismus und danach – im öffentlichen und halböffentlichen Raum zu dokumentieren. Sie können dort nun die Resultate in Form einer etwa halbstündigen Wandprojektion betrachten und zudem seit heute auf einer eigenen Webseite, als interaktive Landkarte, studieren. Diese Rechercheplattform wird, auch als Citizen-Science-Projekt, noch ein Jahr betreut und erweitert werden – und ich würde mich sehr freuen, wenn wir dieses noch lange nicht abgeschlossene Forschungsprojekt in irgendeiner Weise fortsetzen könnten.

„Kunst ist das, was bedeutende Künstler machen“, schrieb der Kurator und Kunsthistoriker Werner Haftmann im Katalog der documenta 1959 – eine zeittypische, heikle und wirkmächtige Tautologie. Wie wirkmächtig und in dem Sinne heikel, dass die Bereiche Kunstausstellung und Kunstgeschichte hier diffundieren, zeigte sich noch in den 1980er Jahren beim Eklat um Arno Brekers Büsten für Peter und Irene Ludwig, die sie am Ende unseres Ausstellungs-Kapitels sehen. Begriffe wie „Nicht-Kunst“ oder „Un-Kunst“ hallten lange nach, ein Thema wie das dieser Ausstellung wurde von beiden Bereichen auf Distanz gehalten. Nur, wer ist dann bloß dafür zuständig? Die kanonisierte Kunstgeschichte orientiert sich am Konzept des Progressiven, am Ideal des Guten, Schönen und Wahren. In diesem methodischen Rahmen existiert für solch ein Thema, durchaus nachvollziehbarer Weise, kaum Raum. Demnach müssten Debatten darüber, welche Formen ästhetischer Produktion wann, wo und auf welche Weise als Kunst definiert werden – und die diese Ausstellung gewiss auslösen wird –, eigentlich zwangsläufig Debatten um kuratorische und kunsthistorische Methoden nach sich ziehen. Es ist von daher sinnvoll und letztlich notwendig, dass diese Ausstellung in einem Historischen Museum zu sehen ist und die Exponate als Quellen aber auch Gegenstand weiterführender kunsttheoretischer Überlegungen gezeigt werden.
„Bedeutend“ ist in diesem Rahmen kein Synonym mehr für „bewunderswert“ oder „begnadet“, sondern, ganz nüchtern, für „relevant“. Kunst wird hier als eine Art Brennglas verstanden, durch das gesellschaftliche Zusammenhänge auf spezifische Weise sichtbar werden. Wir können nur hoffen, eine, in diesem Sinne, bedeutende Ausstellung auf die Beine gestellt und dabei gezeigt zu haben, wie fruchtbar es sein kann, wenn sich Kunstgeschichte und Zeitgeschichte auf Augenhöhe begegnen.
Zum Abschluss hören wir nun Ivo Robics Hit „Morgen”, der, wie auch „Wir werden niemals auseinandergehn“, über eine Million Mal auf Single verkauft wurde – und den wahrscheinlich wieder einige von ihnen mitsummen können, ohne den Text parat zu haben. Und gerade das finde ich als zweite Parallele zu dem Ausstellungsthema interessant: Man kann blinde Flecken nicht nur sehen, sondern auch hören. So wie Henry Moore und Arno Breker zur visuellen Welt der Nachkriegsjahrzehnte gehören, gehören Elvis Presley und Ivo Robic zu ihrer akustischen Welt. Die Ressentiments gegen Abstraktion und Rock’n’Roll saßen tief und schlugen sich regelmäßig in Protesten und auch Übergriffen nieder, obwohl der letztlich größere Raum für konservative Kunst- und Musikauffassungen davon nicht ernsthaft bedroht war. Am Ende konnte sich vor den Rathäusern und den Schulen ebenso wie an den Radiogeräten und Schallplattenspielern der Wunsch nach Kontinuität doch recht souverän behaupten. Oder in den Worten von Robic:

Morgen, morgen, lacht uns wieder das Glück
Gestern, gestern, liegt schon so weit zurück
War es auch eine schöne, schöne Zeit

Morgen, morgen, sind wir wieder dabei
Gestern, gestern, ist uns heut‘ einerlei
War es auch eine schöne, schöne Zeit

Bild: Enthüllung von Hermann Kaspars „Die Frau Musica“ in der Meistersingerhalle Nürnberg, 1970 © Stadtarchiv Nürnberg, E 55 Nr. 176