Wozu das denn? Ein Malbuch von der documenta 6

Alexia Pooth | 8. September 2021

Walter Prankl stand nicht auf der offiziellen Künstler*innen-Liste der documenta 6, doch mit seiner „Mediendocumentation – zum Weitermalen“ wurde er fester Bestandteil der Geschichte der Großausstellung. Was Prankl damit im Sinn hatte, erläutert Dr. Alexia Pooth, wissenschaftliche Mitarbeiterin unserer Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“.

„Herzlichst zur Besprechung freigegeben“

Onkel Walters Mediendocumentation – zum Weitermalen, ein Malbuch von der documenta 6

„Kassel bietet Kunst für alle, Spaß und Ärger für Viele“, hieß es anlässlich der Eröffnung der documenta 6 1977 im Stern – eine Einschätzung, die die beteiligten Künstler*innen wie auch Besucher*innen wohl nur teilen konnten. Welchen Trubel die d6 auslöste und wie die ersten Tage dieser „Monsterschau der Gegenwartskunst“ (Mannheimer Morgen) aussahen, lässt sich bis heute nicht nur an Fotografien, Fernsehsendungen und Pressemitteilungen zwischen Roter Fahne und Playboy nachvollziehen, sondern auch an einem documenta-Malbuch der eigenen Art: Onkel Walters Mediendocumentation – zum Weitermalen. Knapp dreißig Seiten umfasst die von einem Plastikschieber zusammengehaltene Blattsammlung aus schwarz-weiß Skizzen und Textbausteinen. Das Heft besticht, denn die schnellen Zeichnungen von d6-Ikonen wie die Honigpumpe von Joseph Beuys suggerieren Unmittelbarkeit; das Angebot der Kladde, sich malend-kreativ dem documenta-Geschehen zu nähern, ermöglicht individuelles Dabeisein, während die schriftlichen Kommentare wie auch die Originalsignatur „w. prankl“ auf eine Besonderheit verweisen: Dieses Malbuch aus dem Jahr 1977 ist keine bloße „documentation“, sondern selbst ein Kunstwerk.

Wer sich hinter „Onkel Walter“ verbirgt, ist schnell recherchiert: Es handelt sich um den Österreichischen Architekten und Mixed-Media Künstler Walter Prankl (geb. 1935), der in den 1970er Jahren als Kulturpublizist, Kunstpädagoge und PR-Experte ein ästhetisches Konzept mit Namen Umweltdesign (UD) entwickelte. Wie sich an dem Malbuch zeigt, stand hinter UD der Anspruch, aktuelle Kulturfragen „mit Verve“ zu visualisieren, witzig zu veranschaulichen, „was der sachlichen Dokumentation nur unzureichend gelingt“ und so freie und assoziative Meinungsbildung zu ermöglichen.[1] Zwar blieb Prankls (inoffizielle) Teilnahme an der documenta einmalig, doch durch viele weitere Malbücher und vor allem durch sein Umwelt-Design-Journal im Faltposter-Format etwa über die Biennale in Venedig, legte Prankl Dokumente vor, die bis heute visuell einmalig sind.

Wie sich beim Durchblättern des Malbuchs zeigt, ging es Prankl nicht um Objektivität, sondern um das Festhalten dessen, was vor, hinter und zum Teil auch auf den Kulissen der documenta stattfand. Die Blattsammlung, in der jedes Ausmalmotiv einen Buchstaben trägt, wird so durch eine erfrischende Gleichzeitigkeit charakterisiert: Kulturprominenz, Kunstavantgarde und Außenseiter des (westlichen) Kunstbetriebes stehen selbstverständlich nebeneinander – Pflastermaler genauso wie Wolf Vostell oder sechs Künstler aus der DDR. Ihre Einladung, die erste und einzige offizielle documenta-Beteiligung von Künstlern aus dem „anderen“ Deutschland, führte, wie das Malbuch dokumentiert, zu „Krach und Ärger“: Die Maler Georg Baselitz und Markus Lüpertz zogen ihre Bilder vorzeitig ab; sieben ehemalige DDR-Künstler appellierten an Erich Honecker, Berufsverbote für Künstlerinnen und Künstler aufzuheben und in der DDR inhaftierte Kollegen freizulassen.

Titelblatt der „Mediendocumentation – zum Weitermalen“ von Walter Prankl, Foto: Privat

Dass sich Prankl, der im „russischen Wien“ aufgewachsen war, besonders für die Beteiligung der DDR-Künstler interessierte, beweisen gleich drei Skizzen: die Darstellung der „SE6 aus der DDR“ auf Motivbogen A, die Skizzierung des Protestes der sogenannten Ungehorsamen Maler auf Motivbogen L und der Dialog zwischen Joseph Beuys, Werner Tübke und dem DDR-Kunsthistoriker Lothar Lang auf Motivbogen W. Besonders der letztgenannte Bogen gibt Einblick: Die Protagonisten des deutsch-deutschen Dialogs sind zum Ausmalen anskizziert, wobei Fetzen des offenbar geführten Gesprächs im Kommentarmodus wiedergegeben sind. Die so erhaltenen Informationen wirken zunächst willkürlich, doch an Aussagen wie „jeder Mensch ist auf den anderen angewiesen“, „Böll*Biermann = Konfliktstoff“ oder „da nützt keine Ideologie“ wird rasch klar, dass es am Tisch zwischen Beuys, Tübke und Lang um den innerdeutschen Konflikt ging und Prankl offenbar die Chance erhielt, diesen Dialog einzufangen. Die Originalunterschriften der Diskutanten ebenso wie der Bremer Galeristin Ilse Herzt, belegen zudem, dass das Gespräch wirklich stattgefunden hat. Prankls Malbuch wird zum Zeugnis.

Verbreitet wurde die signierte und nummerierte Blattsammlung, die auf Anfrage beliebig nachproduziert werden konnte, durch Versand und persönliche Übergabe. Besitzer des vorliegenden Exemplars war Lothar Lang (1928–2013), dem als Koordinator des DDR-Beitrags von Seiten der DDR eine besondere Bedeutung zukam. Prankl widmete ihm die laufende Nummer 12 mit dem Zusatz, „Herzlichst zur Besprechung freigegeben“. Diese Besprechung fand allerdings erst 32 Jahr später statt: 2009, als Lang die d6, Beuys und Tübke in seinen Memoiren rekapitulierte. Zwar mit Worten und nicht mit dem Zeichenstift wurde so – zumindest von Lothar Lang – der Zweck des kleinen Kunst-Buches erfüllt: Die Motivbögen mit eigenen Erlebnissen weiter „auszumalen“. „Zeitgefährtenschaft“ nannte Prankl dieses Tun und Lothar Lang, der als Reisekader seit 1955 regelmäßig zur documenta fuhr, war definitiv ein Zeitzeuge.

[1] Vgl. https://www.kultur-punkt.ch/diskurs-platon-akademie-4-pa4/pa4-suchworte-a-z/pa4-suchworte-u/umweltdesign-akademie-uda-prankl-i-iv.html [2.7.2021]