Das kommt in/auf die Tüte

Sabine Witt | 14. Juli 2023

Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die im Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt unserer Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen überraschende Fragestellungen der Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Fragestellungen.

Die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt ist eines der Kernthemen der Alltagskultur. In eine fast täglich genutzte, aber selten beachtete Art von Alltagsobjekten gibt Sammlungsleiterin Dr. Sabine Witt einen Einblick: Papier- und Plastiktüten sind Zeugnisse der Wirtschafts-, Kultur- und Sozialgeschichte und zugleich Ausdruck von Massenästhetik und Umweltproblematik.

Seit der Mensch mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs Handel treibt und diese konsumiert, steht er vor einer Herausforderung: Wie transportiert er diese verlust- und bruchsicher von A nach B? Warenverpackungen im handlichen Format haben folglich ihre eigene Geschichte; Materialien und Verwendungen haben sich im Laufe der Zeit gewandelt, Werbung und Verbraucherverhalten verändert. Dies zeigen auch Objekte der Sammlung Alltagskultur, die selten im Fokus des Interesses stehen: Tüten aus Papier, Kunststoff und anderen Materialien.

Mit dem Sammelaufruf „Die DDR ins Museum“ gelangten um 1990 die ersten größeren Konvolute an Tragetaschen in die Sammlung, die ab 1992 unter der Bezeichnung Alltagskultur existiert. Darunter waren Tüten von Handelsorganisationen und bekannten Geschäften, wie dem Centrum-Warenhaus (Abb. 1) oder der Buch-, Musikalien- und Schallplatten-Handlung „Das gute Buch“ (Abb. 2) am Berliner Alexanderplatz. Beide Beispiele stehen im Übrigen für zwei Typen von Tragetaschen – den älteren Typ der Kordelgriff-Tüte, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gebräuchlich war, und die seit etwa 1965 produzierte, also relativ junge Form der sogenannten „Reiterband“-Tasche, bei der im oberen, verstärkten Rand ein Griffloch ausgestanzt wird. „West“-Produkte erweiterten das Sortiment in der Museumssammlung, in der Mehrzahl handelte es sich dabei um Tragetaschen aus farbig bedruckten Kunststoffen, die seit den 1960er Jahren die Papiertüten, -beutel und -tragetaschen verdrängten. Die papierverarbeitende Industrie, die in Deutschland einen eher kleinen Anteil an der Gesamtwirtschaft hat und von mittelständischen Unternehmen getragen wird, verzeichnete im Gegenzug einen Rückgang (Mehr zum Nachlesen auch im Buch: Heinz Schmidt-Bachem: Tüten, Beutel, Tragetaschen. Zur Geschichte der Papier, Pappe und Folien verarbeitenden Industrie in Deutschland, Münster u.a. (Waxmann) 2001, in der DHM-Bibliothek, Signatur 01/1254).

Die Tüte als Werbeträger ist eine fast ebenso alte Erfindung wie die industriell hergestellte Papiertüte, deren Produktion 1853 in der Fabrik von Gumpert Bodenheim im – heute hessischen – Allendorf an der Werra begann. Beworben wird vieles: Hersteller- und Handelsunternehmen, Kundenfreundlichkeit, bestimmte Produkte oder die Vielfalt des Warenangebotes. Als Informationsträger können Tüten aber auch an Stadtjubiläen oder Großveranstaltungen erinnern und ein „ich war dabei“ bezeugen. Mal sprengen Logo und Namenszug den zur Verfügung stehenden Platz, mal genügen sechs schlichte Buchstaben, um mit einer solchen „signature bag“ Distinktion, (guten) Stil und (teuren) Geschmack anzudeuten.

Chanel-Tragetasche, Karton, 14cm x 12cm, Inv.-Nr. AK 2012/79

Und selbst wenn der Duft von Chanel No. 5 schon lange verweht ist, wird die Tragetasche für anderes genutzt und gerne hergezeigt. Zeigen oder Verhüllen sind ebenfalls ein Spiel, bei dem Tüten und Taschen zum Einsatz kommen. Geradezu ein Longplayer sind die quadratischen Tragetaschen aus durchsichtigem Kunststoff, die Leserinnen und Leser der Staatsbibliothek zu Berlin (Abb. unten) kostenfrei erhielten, um ihre Siebensachen, für die Aufsichten gut sichtbar, in den Lesesaal mitnehmen zu können. Stabil, langlebig und zugleich einen neugierigen Blick auf den Inhalt gewährend, sind diese Tragetüten auch außerhalb des Büchertempels gerne im Gebrauch.

Tragetasche der Staatsbibliothek zu Berlin, Kunststoff, 45,5cm x 38,5cm, Inv.-Nr. AK 2012/84

Der Blick in die Sammlung verrät, dass das Sammeln von Warenverpackungen, Tüten und Tragetaschen 2012 einen Schwerpunkt im Fachbereich Alltagskultur darstellte. Der damaligen Sammlungsleiterin Rosmarie Beier-de Haan ging es dabei um das größere Thema Verpackungsmüll bzw. den Umgang mit Materialien und Ressourcen. Dabei fanden, neben vielen anderen, eine schlichte Papiertragetasche mit dem Motiv eines Baumes und der Aufschrift „Der Natur zuliebe“ (Abb. siehe unten), eine Tragetasche der Bio-Supermarktkette „Alnatura“ (Abb. 6 siehe unten), eine Kunststoff-Tragetasche der „Bio Company“ sowie ein Stoffbeutel (Abb. siehe unten) Eingang in die Sammlung, der für das Duale System, also für Wiederverwertung und Kreislaufwirtschaft warb. Die sogenannte „Hemdchen“-Tragetüte der „Bio Company“ (Abb. siehe unten) dokumentiert die Suche nach neuen Materialien und ein gestiegenes Umweltbewusstsein, denn diese Tüte war aus gentechnikfreier Maisstärke produziert und sollte noch einen zweiten Zweck erfüllen können: „Machen Sie ihren Blumen eine Freude und düngen Sie sie mit unserem Bio-Bag.“

Die tatsächliche Recycling- und Kompostierquote solcher Produkte ist jedoch kritisch zu hinterfragen. Eine Zäsur markierte 2016 das Verbot der kostenfreien Abgabe von dünnen Kunststofftragetüten an den Kassen des Einzelhandels. Seit 2022 sind sie gänzlich untersagt, mit Ausnahme der kostenpflichtigen, stabileren Mehrweg-Tragetaschen sowie besonders dünnen Einwegbeutel mit einer Wandstärke von unter 0,015mm, etwa für Obst und Gemüse oder an Frischetheken. Von diesen werden in Deutschland immerhin rund 2,4 Milliarden jährlich verbraucht. Parallel feiert die Papiertüte als nachhaltige, mehrfachverwendbare und recycelfähige Warenverpackung wieder ein Comeback. Einen Denkanstoß will schließlich der Tag der Papiertüte geben, der als European Paper Bag Day seit einigen Jahren am 18. Oktober gefeiert wird, in den USA jeweils am 12. Juli. Oder man trägt seine Einkäufe in einer wieder- und wiederverwendbaren Tragetasche, im Einkaufsnetz oder Korb nach Hause oder sucht, ausgestattet mit Dosen und Gläsern, den nächsten Unverpackt-Laden auf.

 

 

Dr. Sabine Witt

Dr. Sabine Witt ist Sammlungsleiterin Alltagskultur im Deutschen Historischen Museum.