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Vom Kassenschlager zum Unikat. Oder: Das Buch und das Straußenei

Im Herbst 2023 und zu Jahresbeginn 2024 finanzierte der Museumsverein den Ankauf von zwei ganz unterschiedlichen und doch miteinander verwobenen Objekten: ein Kassenschlager aus dem späten 16. Jahrhundert und ein Unikat, das vermutlich wenig später entstand.

 

Bekommen Sie einen ersten Eindruck!

Im Herbst 2023 trat das DHM mit der Bitte an den Museumsverein heran, dieses einzigartige Straußenei zu erwerben. Das Straußenei befand sich jahrhundertelang – möglicherweise seit seiner Entstehung – in der Kunstkammer der Fürsten Oettingen, aus der auch der Willkomm-Becher stammt, den der Museumsverein 2022 mitfinanziert hat. Gerne sind wir der Bitte gefolgt, hat uns das kuriose Objekt doch gleich fasziniert.

 

Einzigartig - ein graviertes Straußenei

Straußeneier waren bereits in der Antike begehrtes Handelsobjekte. Ihre weiteste Verbreitung fanden sie jedoch im 15. und 16. Jahrhundert innerhalb des deutschsprachigen Raumes. Sowohl unbehandelt als auch in Form aufwändig in Silber gefasster Luxusobjekte wie den beliebten Straußenei-Pokalen fanden diese Ovo struthionis Eingang in die fürstlichen Kunst- und Naturalienkabinette der Frühen Neuzeit.

Die Neuerwerbung des DHM gehört zur extrem raren Untergruppe der gravierten Straußeneier. Zwei weitere Stücke in ähnlicher Bearbeitungstechnik aus der kurfürstlich-sächsischen Kunstkammer sind im Grünen Gewölbe in Dresden erhalten; einige wenige sind, wie auch das Exemplar des DHM, das sich zuletzt in Privatbesitz bei einer Händlerin befand und eigentlich gar nicht verkäuflich war, verstreut in Privat- und Museumsbesitz. 

Auf der Wandung des Straußeneis sind ringsum drei Darstellungen eingraviert, welche die Handelsgüter der «Neuen Welt» darstellen:

Der umlaufende obere Rand des Eies zeigt ein stilisiertes Wolkenfries, die Unterseite ein «Mandala»-ähnliches florales Muster, das möglicherweise von der Ornamentik des Ostindischen Raums inspiriert ist und an eine Passionsblume erinnert; tatsächlich wurde auch die Passionsblume um 1600, also zur Entstehungszeit des Objekts, in Europa eingeführt, sodass dieser Gedanke keineswegs abwegig ist. Die verzierte Unterseite lässt zugleich vermuten, dass das Ei ehemals hängend bzw. schwebend präsentiert wurde. 

Die Gravuren sind mit einem Stichel in die nicht ganz ebene Oberfläche des Eis eingeritzt. Anschließend wurde das Ei mit schwarzer Tinte eingerieben, beim Abwaschen der Farbe setzte sich diese in den Vertiefungen ab. Allerdings nicht nur in den Gravuren, sondern auch in den natürlichen kreisförmigen Vertiefungen; dies erklärt, warum die Oberfläche so merkwürdig gesprenkelt erscheint. Die Qualität der Gravuren ist an der sicheren Strichführung zu erkennen, sie wurden mit Sicherheit von einem versierten Kupferstecher ausgeführt, der auch mit fragileren Oberflächen umzugehen verstand. 

Das Objekt bietet gerade für ein historisches Museum viele Ansätze für eine Kontextualisierung und wird zusammen mit der zweiten Neuerwerbung sicherlich auch in der künftigen Ständigen Ausstellung einen prominenten Platz finden. Da wir uns entstehungsgeschichtlich in der Zeit „um 1600“ bewegen, steht das Ei für eine entscheidende Wende in der Geschichte des globalen Seehandels. Es lässt sich sowohl mit konkreten Akteuren als auch mit einem im wahrsten Sinne vollzogenen „Kurswechsel“, einer Verschiebung der Vormachtstellung innerhalb der überseeischen Handelsbeziehungen ab Ende des 16. Jahrhunderts, in Verbindung bringen. 

Das Straußenei wird erstmals in der kommenden Ausstellung „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert” (ab dem 18.10.2024 im Pei-Bau) präsentiert.

Von Anfang an bestand die Vermutung, die Vorlagen zu den Gravuren könnten aus einem illustrierten Reisewerk oder einem ethnografischen Tafelband stammen. Tatsächlich ist es Valeria Butera, Museologin in der Grafischen Sammlung des DHM und Spezialistin für Grafik der Frühen Neuzeit, gelungen, die dargestellten Szenen zu identifizieren.  

Alle drei Darstellungen lassen sich auf die 1596 in Amsterdam erschienene illustrierte Reisebeschreibung des holländischen Seereisenden Jan Huygen van Linschoten (1563–1611) zurückführen.

(Text: Dr. Wolfgang Cortjaens, Sammlungsleiter Angewandte Kunst und Grafik) 

Eine zufällige Entdeckung

Im Januar entdeckte Dr. Matthias Miller, Leiter der Bibliothek und Sammlungsleiter Handschriften – Alte und wertvolle Drucke, die illustrierte Reisbeschreibung van Linschoten in der lateinischen Erstausgabe im Messekatalog der Antiquaria in Ludwigsburg. Gerne waren wir bereit, auch diesen Ankauf zu ermöglichen, hatten wir doch zuvor noch gedacht, dass es schön wäre, wenn das DHM auch den Reisebericht in der Sammlung hätte. Das es so schnell dazu kommen würde, damit hatten wir nicht gerechnet.

Ein folgenreicher Longseller

Jan Huygen van Linschoten wurde 1563 in den Niederlanden geboren und ging früh nach Portugal und Spanien, wo er bei seinen Brüdern den Kaufmannsberuf erlernte. Mit gerade 18 Jahren reiste er 1581 als Sekretär des Erzbischofs von Goa nach Portugiesisch-Indien. Er beschäftigte sich dort mit dem Handel lokaler Produkte, vor allem von Gewürzen wie Pfeffer, Muskat und Zimt. Er erhielt dort auch Zugang zu handgezeichneten Seekarten der Portugiesen, die den Seeweg nach Indien beschrieben. Diese Karten hatten die Portugiesen über 100 Jahre geheim gehalten. Linschoten erkannte deren Wert und kopierte sie heimlich.  

Linschoten muss ein geübter Zeichner gewesen sein, denn die Kupferstiche in dem neu erworbenen Band basieren alle auf Vorzeichnungen von ihm. Nach dem Tod des Erzbischofs kehrte Linschoten über St. Helena und die Azoren nach Lissabon zurück, wo er 1589 eintraf. Von dort reiste er weiter in seine Heimatstadt Enkhuizen in den Niederlanden. 

Mit Unterstützung des auf Reiseliteratur spezialisierten Amsterdamer Verlegers Cornelis Claesz, schrieb er 1596 auf Niederländisch sein Hauptwerk: Navigatio oder Reisebericht über die Fahrt des Seemanns Jan Huyghen van Linschoten nach portugiesisch Indien 15791592. 1598 erschien eine deutsche Ausgabe davon, deren Titel wie die Titel um 1600 allgemein – ein hervorragendes Inhaltsverzeichnis des Bandes ist: Von allen Völkern, Insulen, Meerporten [also Häfen], fliessenden Wassern vnd anderen Orten, so von Portugal aus längs den Gestaden Africae bis in Ost Indien vnd zu dem Land China sampt andern Insulen zu sehen sind. Beneben derenselben Aberglauben, Götzendienst vnd Tempeln, Item von ihren Sitten, Trachten, Kleidungen, Policeyordnung vnd wie sie haushalten. ... Desgleichen von der Residenz des Spanischen Viceroys vnd anderer Spanier in Goa. Item von allen Orientalischen Indianischen Waren und Kummerschaften [= Handel] ... Erstlich im Jahr 1596 ausführlich in Holländischer Sprach beschrieben durch Joan Hugo von Lindschotten aus Holland, welcher in 13 Jaren solches meist alles persönlich zugegen gesehen vnd selbst erfahren hat. Jetzo aber von neuem in Hochteutsch bracht vnd mit künstlichen schönen Figuren in Kupffer gestochen gezieret and tag geben. – Frankfurt (Main): Johannes Saur aus Wetter, 1598. 

Im selben Jahr erschien auch eine englische Ausgabe in London und dann 1599 die lateinische Ausgabe bei Aegidius Elsevier in Den Haag. Das Buch blieb in der Folge ein Longseller, bis 1628 die letzte Ausgabe erschien. 

Das „Itinerarium“ hat in Seefahrerkreisen große Aufmerksamkeit erfahren, vor allem, weil Linschoten nicht nur die Sitten und Gebräuche der Menschen in Portugiesisch Indien auf die Kupfertafeln gebracht hatte, sondern auch die Seekarten der Portugiesen. In der Forschung wird Linschoten deshalb mitunter als Julian Assange des 16. Jahrhunderts bezeichnet, weil er der erste gewesen sein sollte, der diese bis dahin geheimen Karten geleakt hätte. Dies stimmt so allerdings nicht ganz, denn spätestens seit 1516 Martin Waldseemüller seine „Carta Marina Navigatoria“ gezeichnet und Lorenz Fries diese 1525 zusammen mit einem umfangreichen erläuternden Buch unter dem Titel „Auslegung der Meerkarten“ in Straßburg hatte drucken lassen, waren die Erkenntnisse der Portugiesen über den Seeweg nach Indien in der Welt. Dennoch sind die Karten von Linschoten wesentlich präziser und detaillierter als die von Lorenz Fries gut 70 Jahre früher. 

Linschotens Itinerarium über die Route nach Ostindien sowie über die dortigen Produkte und Erzeugnisse regte in der Folge die erste holländische Ostexpedition unter Cornelis de Houtman an, die dann 1602 zur Gründung der Niederländischen Ostindien-Kompanie führte. Damit war das Ende der Monopolstellung der Portugiesen im Gewürzhandel aus Indien eingeläutet und für die Niederlande begann das sogenannte Goldene Zeitalter. Linschoten starb 1611 in seiner Heimatstadt Enkhuizen. 

Das mit Unterstützung des Museumsvereins auf der Antiquariatsmesse in Ludwigsburg erworbene Exemplar der lateinischen Ausgabe von 1599 ist ein – wenn auch umfangreiches Fragment: Der Text ist komplett, es fehlen jedoch 2 der 36 Kupferstichtafeln, nämlich der Stadtplan von Goa und die Ansicht des Marktplatzes von Goa. Außerdem leider auch sechs der sieben Karten. 

Das Werk wird wegen seiner Kupfertafeln sehr teuer gehandelt, vollständige Exemplare erreichen auf Auktionen schnell sechsstellige Zuschläge. Eine kolorierte niederländische Ausgabe von 1596 wurde vor kurzem für 275.000 Dollar versteigert, ein komplettes unkoloriertes Exemplar der lateinischen Ausgabe von 1599 – also die gleiche Ausgabe wie unsere Neuerwerbung ist zurzeit für 135.000 Dollar zu erwerben. 

Eigentlich kauft das DHM für die Sammlung Handschriften / Alte und wertvolle Drucke ungern Fragmente. In diesem Fall jedoch waren der verhältnismäßig „günstige“ Preis und das Buch als Ergänzung zum Straußenei ausschlaggebend, denn: die beiden entscheidenden Kupfertafeln, die als Vorlagen für die Gravuren auf dem Ei dienten, sind in dem erworbenen Exemplar enthalten. Es ist in einem sehr guten Zustand und vor allem die Abdrucke der Kupferplatten sind perfekt. Sie haben eine große Tiefe im Plattenton und sind sehr sauber abgezogen. 

(Text: Dr. Matthias Miller, Leiter der Bibliothek und Sammlungsleiter Handschriften – Alte und wertvolle Drucke)