Coco de mer – eine Nuss in der Museumssammlung

Dr. Wolfgang Cortjaens | 18. Oktober 2023

Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die in Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt der Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Themen.

Dr. Wolfgang Cortjaens, Sammlungsleiter Angewandte Kunst, beleuchtet den Wandel der Perspektiven auf ein eigentümliches, neugierig machendes Sammlungsobjekt: Die Seychellen-Nuss war und ist nicht nur ein begehrtes Handelsgut, sondern wurde im Lauf der Jahrhunderte mit unterschiedlichsten Bedeutungen aufgeladen. Als museales Exponat eröffnet sie gleich mehrere Perspektiven auf ein natürliches Produkt und seine historische Kontextualisierung.

In der Sammlung Angewandte Kunst befindet sich ein entlang der Einschnürung aufgesägtes, entleertes und wieder zusammengeklebtes Samengehäuse von beträchtlichem Umfang.


Seychellen-Nuss (Coco de mer), Berlin, Deutsches Historisches Museum / Foto: Sebastian Ahlers

Im Spalt zwischen den beiden Wülsten sitzt ein Büschel Fasern, dem Kokosbast ähnlich. Bei dem auf den ersten Blick befremdlichen Objekt handelt sich um eine so genannte Seychellen-Nuss, genauer: um das zweilappige Gehäuse der Frucht der Seychellenpalme (bot. Lodoicea maldivica). Diese kann teilweise eine Größe von bis zu 50 cm erreichen und ist die größte Kokosnuss der Welt. Sie wächst einzig auf den zur Inselgruppe der Seychellen gehörenden Inseln Praslin, Curieuse und Silhouette im Indischen Ozean. Die erste schriftliche Erwähnung der Pflanze verdankt sich dem italienischen Entdeckungsreisenden Antonio Pigafetta (um 1480–1534), dem Chronisten der ersten Erdumsegelung durch den Portugiesen Ferdinand Magellan (1519-22). Pigafetta berichtet darin von schwimmenden Nüssen, die an einem mächtigen Baum auf dem Meeresboden wüchsen. i Tatsächlich waren die von ihm und später auch anderen Seereisenden gesichteten Exemplare von der Strömung abgetrieben und an die weit entfernten Küsten Indiens, Sri Lankas Südafrikas und der Malediven gespült worden. Die erste botanische Bestimmung der Frucht erfolgte 1563 durch den portugiesischen Mediziner Garcia de Orta als Coco das Maldivas, doch blieb der tatsächliche Herkunftsort bis ins 18. Jahrhundert hinein unbekannt, was ihren Mythos noch befeuerte.

Die Coco de mer war seit Beginn des indischen Seehandels ein so begehrtes wie kostbares Handelsobjekt. Die ungewöhnliche Größe und die erotische Assoziationen weckende Form des Samengehäuses – die beiden Hälften erinnern je nach Wuchs, Blickwinkel und nicht zuletzt der Sichtweise der betrachtenden Person an männliche Hoden, eine Vulva oder ein wohlgeformtes Hinterteil – trug ihr im pazifischen Raum bald den Ruf eines Aphrodisiakum ein; auch galt sie als Medizin gegen diverse Gebrechen. Im Europa der Frühen Neuzeit war die Seychellen-Nuss ein begehrtes Objekt fürstlicher Kunst- und Naturalienkabinette. In diesen nur einem illustren Kreis ausgewählter Besucher zugänglichen Schausammlungen verband sich Sammelleidenschaft, die Vorliebe für einheimische und exotische Pflanzen, Samen, Wurzeln und Fossilien, für Metalle, Edelsteine und künstlerisch gestaltete Artefakte aus kostbaren und seltenen Materialien mit der Visualisierung des damaligen Weltbildes. Alle Objekte wurden einem idealen Ordnungsprinzip unterworfen, das eine möglichst umfassende Ordnung der sichtbaren Welt anstrebte.ii Dieser Gedanke setzte sich im Zeitalter der Aufklärung fort, welches formal das Konzept der Naturalienkabinette übernahm, diese nun aber gezielt als Instrument der Bildung und (religiösen) Erziehung einsetze. Den frommen Zeitgenossen galten sie als „Schatzkammern der Wunder des grossen Gottes“.iii Das bedeutendste und einzige in situ erhaltene Beispiel einer dergestalt thematisch geordneten Lehrsammlung ist die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen.

Hier wurden die Modelle, Präparate, Mineralien und Kuriosa den Schülern als Schaustücke im Unterricht vorgelegt; auch der interessierten Öffentlichkeit stand das Kabinett zur Besichtigung offen. Durch immer neu hinzukommende Funde, unter anderem durch Einsendungen der pietistischen Missionare, die im Rahmen der Hallesch-Dänischen Mission im südindischen Tharangambadi (vormals Tranquebar) die erste protestantische Mission überhaupt errichtet hatten, wuchs die Sammlung stetig an. 1741 umfasste sie 4.700 Objekte, darunter auch ein stattliches Exemplar einer Coco de mer.iv

Als im 18. Jahrhundert der französische Seefahrer Marc-Joseph Marion Dufresne (1724–1772) im Indischen Ozean den wahren Herkunftsort der Coco de mer entdeckte und wenige Jahre später der Botaniker und Forschungsreisende Pierre Sonnerat (1748–1814) der Frucht das erste Kapitel seines Werkes Voyage à la Nouvelle Guinée (1776) widmete,v setzte bald eine Ausbeutungswelle ein, an deren Ende die Pflanze nur knapp der Ausrottung entging.

Frontispitz zu Sonnerat 1776. Digitalisat vgl. https://www.biodiversitylibrary.org/item/48721#page/10/mode/1up (Zugriff 25.09.2023)

Heute zählt sie zu den von der UICN (Union internationale pour la conservation de la nature) als stark gefährdet eingestuften Pflanzenarten; ein Grund dafür ist ihr langsames Wachstum, die Reifezeit beträgt etwa 30 Jahre. Ihre Ausfuhr ist daher durch die Regierung der Republik Seychellen streng reglementiert.

Im Kunsthandel erscheinen ältere Exemplare der Seychellen-Nuss bisweilen als kostbar eingefasste oder zum Luxusgut verfremdete Kuriosität; zumeist handelt es sich dabei um kunstgewerbliche Erzeugnisse des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts, z. B. eine aufklappbare Schatulle mit silberner Schließe. In naturhistorischen und botanischen Sammlungen sind die Früchte zur besseren Handhabung oder Ausstellbarkeit oft auf Ständer montiert oder mit Halterungen versehen, vgl. das Exemplar des National Museum of World Cultures (vormals Tropenmuseum, Amsterdam).vi

Alter und Herkunft des Exemplars im Deutschen Historischen Museum, das 2001 wohl mit Blick auf die Einrichtung einer „Kunst- und Wunderkammer“ in der alten Dauerausstellung des DHM zusammen mit anderen kunstgewerblichen Gegenständen in einer Varia-Auktion erworben wurde, konnten bisher nicht ermittelt werden. Seine künftige Präsentation in Ausstellungen wird kaum losgelöst von den aktuellen Debatten um den Umgang mit natürlichen Ressourcen zu denken sein und, mit Blick auf die auch ohne Kenntnis der individuellen Objektgeschichte inhärenten kolonialen Implikationen, insbesondere den globalgeschichtlichen Aspekten Rechnung tragen müssen.


i Eine gekürzte Druckfassung von Pigafettas Manuskript erschien erstmals um 1525 in französischer Sprache. [https://archive.org/details/levoyageetnauiga00piga, 2023-09-25]. Die 1536 gedruckte erste italienische Übersetzung fand wiederum Eingang in den ersten Band von Giovan Battista Ramusios Sammlung von Reiseberichten (Della navigationi et viaggi, Venedig 1550).

ii Vgl. Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben, Die Geschichte der Wunderkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, (Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek, 41), Berlin 1993. Für eine Übersicht vgl. Gabriele Beßler, Kunst- und Wunderkammern, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2015-07-09. URL: http://www.ieg-ego.eu/besslerg-2015-de URN: urn:nbn:de:0159-2015070810 [2023-09-25].

iii Johann David Köhler, Anleitung für reisende Gelehrte, Bibliothecken, Münz-Cabinette, Antiquitäten-Zimmer, Bilder-Säle, Naturalien- und Kunst-Cammern u.d.m. mit Nutzen zu besehen, Frankfurt/Leipzig 1762, S. 216 https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-138 [2023-09-25].

iv Für die Konzeption der Wunderkammer zeichnete der Universalgelehrte, Maler und Kupferstecher Gottfried August Gründler (1710–1775) verantwortlich, aus seiner Feder stammt auch der handschriftliche Katalog der Kunst- und Naturalienkammer zu Halle (1741). Vgl. Thomas Müller-Bahlke, Die Wunderkammer: Die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale), Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen, 1998.

v Vgl. Pierre Sonnerat, Voyage à la Nouvelle Guinée, dans lequel on trouve la description des lieux, des observations physiques & morales, & des détails relatifs à l’histoire naturelle dans le regne animal & le regne végétal. Enrichi de cent vingt figures en taille douce, Paris 1776. Bereits ein Jahr später erschien in Leipzig die erste Übersetzung ins Deutsche: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10469721?page=7 [2023-09-25].

vi Afrikaans, vor 1927, Inv.-Nr. TM-400-189. Permalink: https://hdl.handle.net/20.500.11840/126960

Dr. Wolfgang Cortjaens

Wolfgang Cortjaens ist Leiter der Sammlung Angewandte Kunst und Grafik am Deutschen Historischen Museum.