Von Spießbürgern und Vereinsmeiern

Zur Geschichte des Schützenwesens

Sven Lüken | 18. Februar 2020

Die Städte des Mittelalters mussten sich selbst verteidigen. Die Armbrust war dafür geeignet, verlangte aber Übung. Bald entstanden aus Übungsstunden Schießwettbewerbe, daraus dann Schützenfeste und das Schützenwesen, wie der Kurator der Ausstellung „Die Armbrust. Schrecken und Schönheit“ und Leiter der Militaria-Sammlung Dr. Sven Lüken im DHM-Blog erklärt.

Die Städte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit genossen besondere Freiheiten und Freiräume. Es waren keine demokratischen Freiheiten wie heute, aber Regelungen, die gegenüber dem umliegenden bäuerlichen Land sehr viel vorteilhafter waren. Sie hatten die selbstbestimmtere Arbeit in Handwerk und Handel und das engere Zusammenleben zur Grundlage. Wer Handel treibt, braucht Rechtsicherheit. Wer auf engem Raum zusammen lebt, braucht mehr Regeln als andere und muss an ihrer Einhaltung mitwirken. Es waren jedenfalls Freiheiten, die die Bauern in den Dörfern nicht hatten. Das mündete in einem eigenen Stadtrecht und galt zumeist für Frauen und Männer. Der mittelalterliche Stadtbürger ist der Vorgänger des modernen Staatsbürgers.

Der Bürger als Verteidiger seiner Stadt

Wer Freiheiten genoss, musste auch bereit sein, sie zu verteidigen. Da es keine staatliche Ordnung gab, die zur Hilfe gerufen werden konnte, war Selbsthilfe gefragt. Verglichen mit heutigen Verhältnissen herrschte im Mittelalter daher eine Gewaltkultur vor. Wie jede Kultur war sie strukturiert, uns heute kommt sie aber chaotisch vor. Auch wenn der Kaiser oder ein Fürst der Stadtherr war, so war er doch weit weg und hatte zudem eigene Interessen. Also war jeder Bürger zur Verteidigung seiner Stadt verpflichtet. Reiche Kaufleute im städtischen Rat konnten sich Pferde für den Kampf im Sattel leisten. Im städtischen Bauhof oder im Zeughaus lagerten die Kanonen. Die anderen kämpften zu Fuß mit einfachen Stangenwaffen, eben als „Spießbürger“. Und eine kleine, nicht unvermögende Schicht von Bürgern bediente sich einer neuen Waffe, die seit dem 12. Jahrhundert genommen wurde, um den Feind auf Distanz zu bekämpfen: die Armbrust. Eine seit der Römerzeit vergessene Waffe, die gegenüber Pfeil und Bogen mehr Zuverlässigkeit und vor allem mehr Durchschlag brachte. Sie setzte aber mehr Finesse, Technik und Kenntnis bei der Herstellung voraus und zog insgesamt höhere Herstellungskosten nach sich. Zwar war sie nicht so teuer wie ein aus Damaszenerstahl geschmiedetes Schwert, kostete aber aufgrund ihrer Mechanik und belastbaren Teile mehr als ein einfacher Holzbogen.

Halbe Rüstung mit Sonderschlosskonstruktion Süddeutschland oder Sachsen, um 1580 © DHM

Halbe Rüstung mit Sonderschlosskonstruktion, Süddeutschland oder Sachsen, um 1580 © DHM

Mit einer vom Spezialisten hergestellten Armbrust konnte dafür jeder schießen: Mit etwas Übung wurde aus einem Handwerker, einem Kaufmann, einem Bürger ein guter Schütze, der feindliche Belagerer von der eigenen Stadtmauer aus bekämpfen und fremde Stadtmauern mit Bolzen bestreichen konnte. Seit dem 12. Jahrhundert kämpften Armbrustschützen daher nicht nur in den eigentlichen Krieg führenden fürstlichen und königlichen Heeren, sondern auch in den städtischen Aufgeboten.

Vom gemeinsamen Training zum Schützenfest

Ein einzelner Armbrustschütze hat bereits eine militärische Bedeutung, wirksamer sind aber mehrere, die sich gegenseitig Deckung geben. Mit Unterstützung der städtischen Räte entstanden schon im hohen Mittelalter, im frühen 12. Jahrhundert, Schützengesellschaften. Fast immer waren sie an die Kirche gebunden und wählten sich einen Schutzpatron, etwa den heiligen Sebastian, der durch Bogenschützen sein Martyrium erlitten haben sollte. Die damaligen Schützengesellschaften zählten –  anders als heutige Schützenvereine – zur Stadtverfassung und waren der sichtbare Teil des Bestrebens nach Unabhängigkeit und selbstbestimmter Ordnung der Städte. Die Schützen repräsentierten die Städte in denen sie wohnten, arbeiteten und lebten.

Die Zeit vom 15. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges 1618 war die große Zeit der Schützengesellschaften und ihrer Schützenfeste. Epochale Zeitereignisse wie die Reformation änderten nichts daran. Allein in den Städten Süd- und Mitteldeutschlands sind in dieser Zeit über tausend Feste bekannt, nach dem Westfälischen Frieden 1648 gelang eine Wiederaufnahme in bescheidenerem Rahmen.

G. Karsch, Aufzug der Armbrustund Büchsenschützen aus dem Fürstenzug Johann Georgs II. 1678 in Dresden, Kupferstich, um 1678 © DHM

G. Karsch, Aufzug der Armbrust- und Büchsenschützen aus dem Fürstenzug Johann Georgs II. 1678 in Dresden, Kupferstich, um 1678 © DHM

Schützenfeste waren keine alljährlich wiederkehrenden Veranstaltungen, sie wurden von Zeit zu Zeit ausgelobt. Da es zunächst rein städtische Feste waren, nutzen sie auch die städtischen Netzwerke im Reich, um Einladungen auszusprechen und Teilnehmer zu rekrutieren.

Zunächst wurde vorab ein gedrucktes Ladschreiben öffentlich verteilt, das die Bedingungen des Schießens, die Schießbahn und die ausgelobten Preise beschrieb. Auch die Zusammensetzung des Schiedsgerichts und die Rolle des Schießbahnpersonals wurden erwähnt. Fast könnte man meinen, es hätte Begriffe wie Fairness, sportlicher Wettbewerb und Chancengleichheit schon gegeben. Meist wurden auch andere Lustbarkeiten wie Rennveranstaltungen und vor allem Lotterien aufgeführt, um den Besuch eines Schützenfestes zu propagieren – und zu finanzieren. Gestartet wurde dann mit einem gemeinsamen Ausmarsch auf das mit provisorischen Bauten und Zelten besetzte vorstädtische Festgelände. Die umfangreichen Schießdurchgänge selbst benötigten Zeit, während sich amüsiert und gerauft, aber auch über Waffen gefachsimpelt, Geschäfte und Heiraten eingefädelt, „Politik gemacht“ wurde. Nach etwa zehn Tagen war alles vorbei. Die Ergebnisse waren genau dokumentiert worden; es gab Rekorde, die zu überbieten waren; es gab Helden und Versager. Ein Schützenfest war ein Höhepunkt im Verlauf eines städtischen Jahres, das an geistlichen Festen nicht arm war. Die Städte im Heiligen Römischen Reich konnten so eine profane Öffentlichkeit erzeugen – und nutzen.

Weitere Entwicklung des Schützenwesens

In der Zeit um 1500 erkannten die aufstrebenden Fürsten des Reiches das Potenzial der Schützenfeste. Etwas umstrukturiert konnten sie auch den Fürsten des frühmodernen Territorialstaates eine Bühne ihrer Selbstrepräsentation bieten. Zu Anfang ließen sie sich die Feste noch von den darin erfahrenen Städten organisieren, später spannten sie ihr eigenes Personal mehr und mehr dafür ein. Die Feste gewannen an Glanz, verloren aber ihre Ursprünglichkeit und Egalität.

Armbrustschützen bei einem Turnier. Darstellung auf einem Schrank Carl Gustaf Wrangels, Augsburg, um 1650 © Statens Historiker Museer – Schloss Skokloster

Armbrustschützen bei einem Turnier. Darstellung auf einem Schrank Carl Gustaf Wrangels, Augsburg, um 1650 © Statens Historiker Museer – Schloss Skokloster

Unzähliges Personal versuchte die Ordnung auf der Schießbahn zu halten: Die „Pritschenmeister“ suchten Übertretungen zu ahnden, Störer zu bestrafen und das Publikum im Harlekinkostüm mit derben Scherzen bei Laune zu halten. Am Ende hielten sie die Ergebnisse schriftlich fest, in gereimter Form. Die „Zieler“ legten fest, wer wo und wie oft getroffen hatte, Schreiber notierten penibel die Ergebnisse, andere sammelten die Bolzen wieder ein. Wenn es am Schluss Streit gab, trat ein vornehmes Schiedsgericht in Aktion, mit allen Vollmachten ausgestattet.

Militärisch löste die Feuerwaffe die Armbrust bis zum Ende des 15. Jahrhundert ab; auf der Schießbahn waren Feuerwaffen ebenfalls seit dieser Zeit zugelassen, doch die Armbrust blieb als Wettkampfwaffe erhalten, bis heute. Lange galt sie als die vornehmere Variante des Schießens. Geschossen wurde auf der Schießbahn mit Armbrust und Gewehr auf eine kleine, runde Zielscheibe, etwa 80 Schritt entfernt. Wer „ins Schwarze traf“, hatte „den Nagel auf den Kopf getroffen“ – auch heute noch eine Herausforderung. Oder es wurde auf einer Wiese auf einen hölzernen Adler geschossen, der auf einer hohen Stange steckte. Gewinner war wer zum Gaudium aller den letzten Teil herunterholte und damit „den Vogel abgeschossen“ hatte. Die Preisgelder waren in manchen Städten so hoch, dass es professionelle Schützen gab, die davon lebten.

Detail auf Ganzer Rüstung, Augsburg oder Nürnberg, erste Hälfte 17. Jahrhundert © DHM

Detail auf Ganzer Rüstung, Augsburg oder Nürnberg, erste Hälfte 17. Jahrhundert © DHM

Dies alles erinnert an den heutigen Sport, doch war der dafür notwendige Begriff der Freizeit noch nicht erfunden. Es war ein Wettkampf mit Waffen, zwar fern vom Krieg, aber doch im Dienste der Repräsentation der Stadt oder der Fürsten.

Im 18. Jahrhundert ebbte die Begeisterung für das Schützenwesen ab. Vom Untergang des Heiligen Römischen Reiches 1806 haben sich die Schützenfeste nicht erholt. Die gesellschaftlichen Bedingungen änderten sich, die Städte verloren ihre Freiheit, seit der Französischen Revolution von 1789 begegneten sich Bürger und Fürsten unter anderen Vorzeichen. Zwar wurde das gesamte Schützenwesen nach den Befreiungskriegen im 19. Jahrhundert wiederbelebt, doch jetzt unter den Bedingungen des bürgerlichen Vereinswesens. Es war etwas anderes als die städtische und fürstliche Selbstdarstellung in den Jahrhunderten zuvor: Aus Ernst wurde Spaß.