VI. 
                Überforderung angesichts der Zukunft?
              "Das Heilen dieser Wunden braucht viel 
                Zeit. Es dauert vermutlich zwei Generationen, bis wir wieder ohne 
                Vorurteile und gegenseitiges Verletzen aufeinander zugehen können." 
                (7: 11.06. 93, w, Berlin-Steglitz) Das stimmt nicht gerade hoffnungsvoll 
                für die unter ihren akuten Kränkungen leidenden Bürger 
                in diesem Land. Geschichte wird hier als eine nicht selbst gemachte 
                oder machbare gedeutet. Das Geschichtsbild, das dieser Wahrnehmung 
                zugrunde liegt, widerspricht damit zentral jener Vorstellung, 
                die den Sozialismus offiziell durchherrschte und auch noch der 
                Hintergrund der 1989er Revolution war: Hier wie dort wurde als 
                Basis die Idee verfolgt, die Menschen machten Geschichte. Wie 
                sonst hätte man den Mut haben können, gegen eine Zentralmacht 
                den Aufstand zu proben, die der sozialistischen Staatsverfassung 
                den Rang des ewig so Bleibenden attestierte? Um so erstaunlicher 
                ist es, daß bezogen auf das Heute die Menschen resignieren 
                und den positiven Bezugspunkt nicht im eigenen Tun sehen, sondern 
                im Verstreichen der Zeit, die schon Veränderungen bringen 
                werde. Geschichte wird nach der gewonnenen Revolution also als 
                etwas verstanden, was nicht aktiv vollzogen wird von den Menschen, 
                sondern was sich an ihnen vollzieht. Die Menschen sind nach dem 
                kurzen Aufstand zurückgekehrt in die Passivität. Nun 
                heißt es wieder abwarten.
              Wer von den Besuchern sich in der Prognose 
                der gesellschaftlichen Rekonvaleszenz nicht in Generationenfolgen 
                verstrickt (und so für die nahe Zukunft keine Aussicht auf 
                kurzfristige Besserung sehen mag), flüchtet sich in den Gedanken 
                "Was wäre, wenn nicht..." oder hat Zukunftsmodelle 
                parat, die ebenso originell wie weitschweifig ausfallen können. 
                Sich der von den Ausstellungsmacherinnen aufgeworfenen Frage so 
                zu stellen, ist recht erstaunlich. Denn die Frage lautete, daran 
                sei hier erinnert, "Und heute - 1993?". Mit den Antworten 
                werden jedoch keine Gegenwartsdiagnosen, sondern - oft mit ausdrücklichem 
                Bezug auf diese Frage - Zukunftsvisionen geboten, oder es werden 
                gar Szenarien eines Geschichtsverlaufs entworfen, der anders hätte 
                aussehen sollen. Versuchen sich nämlich manche Besucher in 
                Schätzungen über den Zeitverlauf bis zum Abbau der binnen 
                der letzten Jahre aufgetürmten Vorurteile, so haben andere 
                Strategien parat, wie einer überstürzten Angleichung 
                entgegenzuwirken gewesen wäre: "Meiner Meinung nach 
                war die Wiedervereinigung der beiden Landesteile, die sich innerhalb 
                von 40 Jahren in verschiedene Richtungen entwickelt haben, verfrüht 
                und übereilt. Statt dessen hätte die ehemalige DDR ein 
                autonomer (von der BRD unterstützter) Staat bleiben sollen. 
                So hätten beide Gebiete ihre Entwicklung selbständig 
                weiterführen können." (9: 12.07. 93, w?, Ostdeutschland) 
                "Gemeinsam in die Zukunft, das wäre die richtigere Idee 
                zur ,Wiedervereinigung` gewesen. So wurde im Hauruck-Verfahren 
                ein Land aufgesogen, freien Marktgesetzen ausgesetzt und nahezu 
                gelöscht. Ich meine, Menschlichkeit ist wichtiger als Trennung 
                und Abgrenzung. Ich hoffe, die Schäden der Löschaktion 
                DDR werden bald für die Menschen aus diesem Land nicht mehr 
                so zerstörerisch sein wie noch in der momentanen Gegenwart." 
                (9: 12./14. 05. 93, w, Ostdeutschland)
              Das Gefühl, die eigene Biographie plötzlich 
                unwiderruflich für eine Gegenwart verloren zu haben, die 
                nicht die eigene ist, prägt zahlreiche Niederschriften ehemaliger 
                DDR-Bürger, und wer dem "Löschen" der DDR 
                nachtrauert, bietet in der Regel keinen pragmatischen Hinweis 
                darauf, wie man denn nun mit der einmal geschehenen Geschichte 
                umgehen könnte.
              Von Pragmatismus sind allerdings auch jene 
                Gedanken kaum berührt, die sich die Besucher um die Zukunft 
                machen. So äußert sich ein älterer Gast vom Bodensee: 
                "Und heute? Heute haben wir die Wiedervereinigung. Wäre 
                allen bewußt gewesen, welche Schwierigkeiten auf uns zukommen 
                würden, hätte es sie nie gegeben. Das hätte manchen 
                gefreut. So aber ist die Entwicklung global wie national eine 
                der größten Herausforderungen für Deutschland. 
                Wir sollten unsere Geschichte annehmen - in allen ihren Epochen. 
                Unsere Kräfte müssen wir sammeln für das, was die 
                Zukunft fordert. Geduld, Toleranz und Augenmaß sind die 
                unabdingbaren Voraussetzungen, damit zusammenwächst, was 
                zusammengehört! (W. Brandt)." (6:11.07. 93, m, Westdeutschland)
              Zwar werden hier - wie in zahlreichen ähnlichen 
                Niederschriften - die (deutschen) Grundtugenden bemüht, um 
                eine Orientierung in dieser besonderen Situation zu geben, doch 
                freilich bleibt es bei Appellen, und man kann sich kaum des Verdachtes 
                erwehren, daß in diesen Bekundungen auch eine Aufforderung 
                an das Erziehungssystem durchscheint, dem der Part der (inneren) 
                Vollendung der Vereinigung zugewiesen wird.
              Die Metaphorik des Wachsens, also des Organischen 
                und Lebendigen, ist ein durchgängig gebrauchtes Bild zur 
                Erzeugung einer anderen Vorstellungswelt als jener, die man allenthalben 
                dominieren sieht. Das Bild vom Leben ist auch dort wirksam, wo 
                von der jüngeren Generation enttäuschte politische Hoffnungen 
                geäußert werden. Gerade am 4. November 1993 haben sich 
                - wohl in Erinnerung an die große Demonstration in Ostberlin 
                vier Jahre zuvor - nach Aktion rufende Eintragungen in den Besucherbüchern 
                gehäuft: "Nur eins bitte nicht: Resignation! Uns bleibt 
                nur der Weg auf die Straße, die Ossis müssen den Schwung 
                von '89 wiederfinden." - "Wir jungen Berliner sitzen 
                zwischen zwei Stühlen, zwischen gefrusteten Wessis und traurigen 
                Ossis. Wir werden alle noch mal auf die Straße gehen, mit 
                neuem Willen zur Revolution. Gebt uns, der Nachwuchsgeneration, 
                eine Chance, wir haben Visionen und Ideen." (11 u. 13: 04./05. 
                11. 93, junge m?, Ostdeutschland)
              Auffällig ist auch, daß die meisten 
                Westdeutschen den Willen zum Zupacken betonen und durchaus auch 
                den zur wirtschaftlich-finanziellen Einschränkung. Wovon 
                sie aber nicht sprechen, ist eine psychische Änderung ihrer 
                selbst (wie es manche Ostdeutsche von ihnen wünschen und 
                erhoffen). Wirtschaftlich-monetäre Einschränkungen werden 
                akzeptiert, doch insgesamt ist man, so wie man ist, mit sich "zufrieden", 
                will keine "sozialpsychologischen" Veränderungen. 
                Eine der wenigen Stimmen, die sich hier äußerte, lautete: 
                "Wir Westdeutschen haben uns doch noch gar nicht vor Augen 
                geführt, daß wir uns nach der Wiedervereinigung in 
                einem anderen Land befinden. Mit dem Ende der DDR hat doch auch 
                die alte Bundesrepublik aufgehört zu existieren." (13: 
                16.11. 1993, m, Westdeutschland) Hier, so darf man vermuten, ist 
                eine fortdauernde Quelle für den Fortbestand von Fremdheit 
                und wechselseitiger Distanz zu finden. Wenn nämlich von der 
                einen Seite die persönliche Biographie, die Psyche ins Spiel 
                gebracht wird, die andere Seite aber gerade das Persönliche 
                durch monetäre Aspekte zu verdinglichen sucht, wird nur prolongiert, 
                was die aktuelle Situation kennzeichnet: Desintegration.
              Nimmt man an, daß die in zahlreichen 
                sozialpsychologischen Studien herausgearbeiteten Differenzen in 
                den Lebenswegen und in den Wahrnehmungsmustern zwischen Ost und 
                West keine bloß im wissenschaftlichen Diskurs kursierenden 
                Auffälligkeiten sind, sondern daß sie sich tatsächlich 
                im Alltag der Beobachteten und Befragten niederschlagen, so stellt 
                sich die Frage, wie mit dieser Differenz in der Reflexion über 
                sie umgegangen wird. Denkbar sind mehrere Varianten selbst dann, 
                wenn man - wie allgemein üblich - davon ausgeht, daß 
                die westlichen Kultur- und Lebenslaufmuster nun zu den dominanten, 
                jene der östlichen Gesellschaft majorisierenden geworden 
                sind. Eine Variante besteht in der schnellen Angleichung an den 
                westlichen Lebensstil. Sie war zu erwarten gewesen aus der Wunschprojektion 
                von 1989 heraus, zum anderen Teil Deutschlands zu gehören. 
                Die Biographieforschung legt freilich eine zweite Variante nahe: 
                Ein gewisses Beharrungsbestreben ist im Hinblick auf Gewohnheiten 
                und Orientierungsmuster einer Person eher zu erwarten als das 
                Abwerfen der eingeschliffenen Handlungs- und Denkformen. Dies 
                zumal dann, wenn von einem Wechsel nicht zugleich auch das soziale 
                Umfeld betroffen ist. Dagegen bieten die Besucherbücher eher 
                Stimmen und mithin Daten für eine dritte Variante, die den 
                Faktor Zeit stärker ins Spiel bringt.
              Erst im nachhinein, so möchte man sagen, 
                vier Jahre nach der Maueröffnung, trifft das Geschichtsereignis, 
                ein wiedervereinigtes Volk zu sein, die Menschen in Deutschland 
                unvorbereitet, und sie reagieren darauf auf beiden Seiten mit 
                dem Plädoyer für Verlangsamung. Will man von einer "Ethnologie 
                des Inlands" sprechen , so wird man sehen müssen, daß 
                die gewohnte Balance zwischen den "Polarisierungszwillingen" 
                DDR und Bundesrepublik, die in ihrer Unterschiedlichkeit komplementär 
                und in ihren Selbstwahrnehmungen angewiesen waren auf den Blick 
                auf den jeweiligen anderen als das "Andere", dahin ist.