Rosmarie Beier
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Bericht zur (mentalen) Lage der Nation
Was die Besucher einer Berliner Ausstellung über die deutsch-deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denken
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Katalog

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Einführung

Deutschland um 1900

DDR
BRD


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Ausstellungsarchitektur



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Aus Politk und Zeitgeschichte


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VII. Bilanzen: Besucher thematisieren die Besucherbücher

Die Besucherbücher forderten nicht nur zum Streit untereinander heraus, zum Dialog und zum gemeinsamen Weiterdenken, sondern sie wurden von den Besuchern selbst zum Gegenstand ihrer Analysen gemacht. So beklagt eine junge Frau aus Westdeutschland die in den Niederschriften sich ausdrückende Stimmung in der ehemaligen DDR - wo sei die Freude über die neuen politischen Rechte und Freiheiten geblieben? "Wo sind die Menschen, die sich so sehr die freie Meinungsäußerung und Reisefreiheit gewünscht hatten? Freut sich denn keiner von ihnen über den Mauerfall? Warum nur Klagen?" (3: 25.11. 93, junge w, Westdeutschland) Jemand hat darunter geschrieben: "Pressefreiheit für Arbeitslose im Osten?"

Die Prioritäten der Wahrnehmung und Bewertung der Gegenwart sind andere geworden. Die Erlangung politischer Freiheiten im Osten ist in den Besucherbüchern von östlicher Seite kaum ein Thema. Der aufmerksame Leser der Bücher wird feststellen, daß die Reisefreiheit, die freie Meinungsäußerung und freie Wahlen nicht thematisiert werden. Erst die Erinnerung macht die Differenz in den allgemeinen Bürgerrechten wieder sichtbar. Denkt man an die Bilder und Stimmungen von 1989/90 zurück, so stellt man fest, wieviel sich geändert hat. Keine Rede ist mehr vom Glück, dem Westen zuzugehören, von Freiheit, Reisemöglichkeiten etc. Das Gewonnene - weil jetzt selbstverständlich - wird nicht thematisiert, das Verlorene - Geborgenheit, Kontinuität, soziale Sicherheit - deutlich herausgestrichen. Das ist insofern durchaus verständlich, als es gerade die Verluste sind, die den Alltag dominieren: Die Arbeitslosigkeit sowie das Verschwinden der gewohnten sozialen Bezüge und Lebensformen werden täglich neu und schmerzhaft erfahren. Das können die gewonnene Reisefreiheit und die - in den letzten Monaten der DDR-Gesellschaft allenthalben schon um sich greifende - individuelle Meinungsoffenheit nicht kompensieren.

Diese Haltung bleibt natürlich nicht ohne Kommentar und Widerspruch - insbesondere seitens der Besucher aus dem Westen. Den Verlustäußerungen setzt eine jugendliche Schreiberin aus Jever in Ostfriesland deutlich entgegen: "Ich habe mir gerade mal ein paar Seiten durchgelesen. Und muß feststellen: Hört endlich auf zu meckern!! Ist Freiheit nicht mehr wert als alles andere?? Aller Anfang ist schwer, auch dieser, aber es kann nur aufwärts gehen, wenn jeder was dafür tut, und da sollte man vielleicht mal bei sich anfangen und nicht immer auf die anderen warten." (7: 20.05. 93, junge w, Westdeutschland)

Ähnlich urteilen "zwei Mindener": "Am 9. November 1989 haben wir vor Freude über die Entwicklung - Untergang des ,realexistierenden Sozialismus` - geweint. Heute - nach ca. dreieinhalb Jahren - sind wir nachdenklich über alles, was sich verändert hat! Wer wollte denn die Freiheit haben? Wir hatten sie!" (3: 31. 07. 93, m/w?, Westdeutschland)
Ein Stuttgarter schreibt, er "vermisse bei den vielen Zuschriften in diesem Buch die Gedanken aus der Unfreiheit und Gängelei in die Freiheit nach so vielen Jahren. Bin selbst vor über 40 Jahren geflüchtet, und wir haben alles, Haus, Hof und Besitz, zurückgelassen, um diesem Regime zu entgehen und um der Freiheit willen. Diese Eindrücke vermisse ich hier." (4: 26.08. 93, m?, Stuttgart)

Auch im Bilanzieren des Gelesenen bleibt der geradezu hilflose Versuch der Besucher evident, gegen die alltäglichen Nöte und permanent erfahrbaren Brüche in der Biographie der neuen Bundesbürger einen eher abstrakt bleibenden Gewinn zu setzen. Das Unterfangen, die gewonnene "Freiheit" in eine individuelle Bilanz einbringen zu wollen, kann nur schiefgehen. Denn in vielen Fällen wird eben diese Freiheit heute als etwas, was nie vermißt wurde, deklariert. Die Struktur der Argumentation in den uns vorliegenden Texten, die auf die Besuchereinträge in den Besucherbüchern selbst reflektieren, entspricht etwa der im "Ossi-Wessi-Streit": In den Blick gerät hier wie dort nicht das konkrete Individuum, sondern das Kollektiv oder das abstrakte Individuum. Was fehlt, ist der Vorschlag, auch hier - im Gefolge einer kommunitaristischen Idee etwa - gemeinsam nach der Verwirklichung von Freiheit zu streben.

Eine Ausnahme bieten die Besucherbücher freilich auch hier. Unter der Überschrift "Kleine Anekdote" ist von einem Besucher aus Essen/Berlin (3: 14.11.93, m, Westdeutschland) zu lesen: "An einem grauen Novembertag bin ich nun hier gewesen, beeindruckt von der guten Darstellung unserer Geschichte, der Geschichte der Menschen in Deutschland. ,Wie geht es weiter?` - und leider doch überkommt mich das Gefühl der Leere, fast schon Resignation, wenn ich hier die Kommentare lese. Hat da wirklich ,jemand die Fenster aufgestoßen, nach den Jahren der geistigen Stagnation` (Stefan Heym 4.11.89 auf dem Alex) oder dümpeln wir immer tiefer in einem Mief, gleichermaßen in Ost und West, aus dem unsere Kinder nicht nach oben sehen können. Die Ideale, die ihr Erwachsenen fast alle nicht erlebt, kennt die Jugend kaum noch. Deutschland im Herbst 93 - ein Trauerspiel. ,Und ich glaube und hoffe doch auf uns. Und wäre ich am Ende, erreicht habe nichts als einen Anfang von vorn!` (frei nach W. Biermann)."

 
           
 
 
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