Zum Wandel und Gebrauch der deutschen Sprache seit dem 9. Jahrhundert

Matthias Miller | 8. September 2022

Am 10. September 2022 ist der Tag der deutschen Sprache. Vor diesem Hintergrund stellt Matthias Miller, Leiter der Bibliothek und der Sammlung Handschriften / Alte und wertvolle Drucke, sechs ausgewählte Werke vor, die von der Entwicklung der deutschen Sprache zeugen.

Wie in jedem Jahr ruft der Verein Deutsche Sprache e.V. den zweiten Samstag im September zum Tag der deutschen Sprache aus. Etwa parallel veröffentlichte kürzlich der Langenscheidt-Verlag die zehn Kandidaten für das Jugendwort des Jahres 2022, die immer ein Gradmesser für die Wandelbarkeit von Sprache sowie deren Funktion und Gebrauch sind. Interessant ist, dass es in diesem Jahr zwei Wörter auf diese Liste geschafft haben, die aus dem Umfeld von Computerspielen kommen: „smash“ als Ausdruck dafür, mit jemandem etwas anzufangen aus dem Spiel „Smash or Pass“, und „sus“ für suspekt, das aus dem Spiel „Among us“ stammt). Die beliebtesten Wörter unter Jugendlichen sind weiterhin stark von englischen Ausdrücken beeinflusst, wie etwa „slay“ für jemand sehr selbstbewusstes oder der inzwischen schon ältere „Bro“, der für brother, Bruder oder Kumpel steht. Der „Macher“ auf der Liste war irgendwie erwartbar, „bodenlos“ für unglaublich bzw. schlecht ist hingegen überraschend.

Die Bibliothek und die Sammlung Handschriften / Alte und wertvolle Drucke des Deutschen Historischen Museums sind voll von Zeugnissen, die die deutsche Sprache entweder selbst überliefern oder die eine Beschäftigung mit der deutschen Sprache, ihrem Wandel und den Versuchen ihrer Vereinheitlichung bezeugen. In einem chronologischen Rundgang vom 9. bis ins 20. Jahrhundert will ich ein paar Beispiele daraus vorstellen, auch um zu zeigen, dass für Objekte zwei historische Komponenten relevant sind, um in die Sammlung des Deutschen Historischen Museums aufgenommen zu werden: deutsch zu sein und Deutsch zu sprechen.

Das Heliand-Fragment

Heliand-Fragment, Heiliges Römisches Reich, um 830, Inv. Nr. R 56/2537 © DHM

Einer der größten Schätze des DHM ist das sogenannte Heliand-Fragment. Es handelt sich um ein Blatt aus Pergament, auf das um 830 von einem Mönch in einer gleichmäßigen karolingischen Minuskel auf Altsächsisch die biblische Geschichte der Taufe Jesu im Jordan durch Johannes den Täufer geschrieben wurde. Von der Handschrift, aus der das Berliner Blatt stammt, hat sich in der Universitätsbibliothek Leipzig ein weiteres Blatt erhalten. Die Handschrift wurde im späten 16. Jahrhundert aufgelöst und die einzelnen Blätter wurden für Bucheinbände weiterverwendet, weshalb die Außenseite des Blattes durch Abrieb nicht mehr sehr gut lesbar ist. Das Altsächsische ist ein ausgestorbener Dialekt, vom dem nur zwei Texte überliefert sind: Die altsächsische Genesis und der Heliand. Heliand heißt Heiland und der Text ist eine Kompilation der vier biblischen Evangelien in eine Geschichte, was Evangelienharmonie genannt wird. Karl der Große hatte im Frankfurter Kapitular von 794 verkündet, dass man in jeder Sprache beten könne und Gott jeden erhören werde, wenn er nur recht bitte. Nach seiner Kaiserkrönung am Weihnachtstag des Jahres 800 leitete Karl der Große umfangreiche Reformen ein, die unter anderem darauf abzielten, zum einen die Schrift zu vereinheitlichen und zum anderen, einheitliche liturgische Texte im Reich durchzusetzen. Die Idee, auch in der Volkssprache beten zu können, führte in der Folge dazu, dass die wichtigsten liturgischen Texte wie etwa das Taufgelöbnis, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser ins Althochdeutsche übersetzt wurden. Das Freisinger Paternoster vom Anfang des 9. Jahrhunderts, überliefert in einer Handschrift in der Bayerischen Staatsbibliothek München (Clm 6330), ist neben anderen gleichzeitigen Beispielen ein eindrucksvolles Zeugnis davon: „fater unser du pist in himilum“ … Sehr bald schon wurden auch längere Texte ins Deutsche übertragen oder genuin auf Deutsch verfasst. Dazu zählt unter anderem der gereimte Heliand von einem uns heute unbekannten Verfasser. Das Berliner Fragment vereint nun zwei der zentralen Reformgedanken Karls des Großen, die in der karolingischen Minuskel vereinheitlichte Schrift und den biblischen Text in der Volkssprache. Das Altsächsische ist zwar in der Minuskel gut zu lesen, aber ungleich schwerer zu verstehen. Aber manches kann man doch ganz gut in unser heutiges Neuhochdeutsch übersetzen, etwa in der 7. Zeile von oben: „aftar quam thas uuord fan himila“ (und das Wort kam vom Himmel)

Martin Luthers Septembertestament

„Das Newe Testament Deutzsch. Vuittemberg.“ (September-Testament), Wittenberg, 1522, Inv.-Nr. RA 92/3237 © DHM

Der Tag der deutschen Sprache fällt am 10. September 2022 beinahe mit dem 500. Jahrestag des Erscheinens des sogenannten Septembertestaments vom 21. September 1522 zusammen. Luther, seit 1520 von Papst und Kaiser gebannt, hatte in nur 73 Tagen auf der Wartburg über Eisenach das Neue Testament ins Deutsche übersetzt und dabei den Nachdruck einer von Erasmus von Rotterdam 1519 herausgegebenen griechischen Ausgabe und eine lateinische Vulgata als Vorlage genutzt. Obgleich Luther nicht gut Griechisch konnte, betrat er mit seiner Übersetzung doch Neuland, indem er auf den griechischen Urtext zurückgriff, um die lateinische Übersetzung zu überprüfen. Der Reformator schuf mit seiner Bibelprosa ein Monument, das – die deutsche Sprache prägend – fest auf seinem Sockel steht und das mit seinen Alliterationen heute immer noch unseren Leserhythmus der Bibel bestimmt: „Vnnd es waren hirtten ynn der selben gegend auff dem feld, bey den hurtten, vnnd hutteten des nachts, yhrer herde …

Johann Fischart und die Geschichtsklitterung

Roman von François Rabelais in der sprachexperimentellen deutschen Übersetzung von Johannes Fischart, Straßburg, 1582, Inv.-Nr. R 16/888 © DHM

Der Versuch, François Rabelais‘ 1533 erstmals erschienenen Roman „Gargantua et Pantagruel“ ins Deutsche zu übersetzen, gipfelte 1575 in einem großartigen Sprachexperiment: der „Affenteurlichen und Ungeheurlichen Geschichtschrift“ des frühneuhochdeutschen Schriftstellers Johann Fischart (1546/47–1591). Nie zuvor hatte ein Übersetzer in deutscher Sprache Ähnliches versucht, keiner vor Fischart hat einen so bild- und wortmächtigen Roman geschaffen. Mit seinem Werk trägt Fischart auf dem Gebiet der Wortschöpfung für die deutsche Sprache nach Luther am meisten bei. Der Titel wurde für die zweite Ausgabe von 1582 verändert und hieß nun „Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung“, wodurch das Wort „Geschichtklitterung“ in dieser Ausgabe zum ersten Mal gedruckt zu lesen ist. Wegen seiner experimentellen Sprache wird das Werk auch gerne als „Finnegans Wake“ des 16. Jahrhunderts bezeichnet. Das Exemplar des DHM enthält mehrere Besitzeinträge von deutschen Philologen, die Fischarts Werk offenbar zu ihrer Beschäftigung mit der deutschen Sprache benutzt haben. Die Einträge des Schriftstellers und Lyrikers Friedrich Wilhelm Gotter (1746–1797) und des Philologen und Schriftstellers Carl August Böttiger (1760–1835) zeigen, dass sich auch die deutsche Philologie der Aufklärung und der Romantik mit diesem Werk intensiv auseinandergesetzt haben.

Georg Henisch und das erste deutsche Wörterbuch

Erstes Wörterbuch der deutschen Sprache, Georg Henisch, Augsburg, 1616, Inv.-Nr. RA 19/291-1 © DHM

Im Jahr 1616 erschien in Augsburg der erste Band des ersten deutschen Wörterbuchs unter dem Titel „Teütsche Sprach und Weißheit. Thesaurus Linguae Et Sapientiae Germanicae“, den der Autor Georg Henisch in jahrzehntelanger Arbeit zusammengetragen hatte. Der erste Band behandelt nur die Buchstaben A bis G und vergleicht das Deutsche mit neun weiteren Sprachen (englisch, böhmisch, französisch, griechisch, hebräisch, italienisch, polnisch, spanisch und ungarisch). Zwei Jahre vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges erschienen konnte das Werk in der Folge leider nicht fertig gestellt werden. Das Titelblatt zeigt neben Kaiser Matthias auch die sechs wahlberechtigten Kurfürsten, darunter direkt neben dem Kaiser Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, der zwei Jahre später dessen erbittertster Gegner werden sollte. Die Gegenüberstellung der deutschen Sprache mit den anderen europäischen linguae francae zeigt, wie uneinheitlich das Heilige Römische Reich zu dieser Zeit war und es für die nächsten dreißig Jahre bleiben sollte. Gleichzeitig ist der Band als erstes Deutsches Wörterbuch elementar für die Festigung der deutschen Sprache und der Darstellung des zu dieser Zeit gebräuchlichen Wortschatzes. In dem ausführlichen Lemma „deutsch“ leitet Henisch den Begriff von Teutates, dem Gott aus der keltischen Mythologie ab, was insofern nicht ganz falsch ist, als Teutates „Vater des Volkes“ heißt und deutsch heute von germanisch þeuðō (Volk) und althochdeutsch thiota (zum Volk gehörig) abgeleitet wird.

Fremdwörter vermeiden, deutsch sprechen!

Synonymwörterbuch zur „Verdeutschung entbehrlicher Fremdwörter“, Inv.-Nr. 18/1916<166. Tsd.> © DHM

Seit dem 17. Jahrhundert hielt besonders durch die Strahlkraft des französischen Hofes in Versailles aber auch wegen dynastischer Verbindungen sowohl nach Frankreich wie auch nach Russland das Französische als die „feine“ Sprache nicht nur im Hochadel Einzug. Im Zeitalter der Aufklärung wanderten vor allem in gelehrten Kreisen zahlreiche Fremd- und Lehnwörter ins Deutsche ein, die hauptsächlich aus antiken Schriftquellen des Griechischen und Lateinischen stammten und rasch Verbreitung in allen gesellschaftlichen Schichten fanden. Nach dem Piotrowski-Gesetz dringen neue Sprachformen oder Wörter so lange in eine Sprache ein, bis sie entweder die alten Formen oder Wörter ersetzt haben oder sie an eine von der Sprachgemeinschaft definierte Toleranzgrenze stoßen. Manche Formen und Wörter verschwinden daraufhin wieder, manche setzen sich fest und bleiben. Die Tendenz, immer mehr Fremdwörter in der deutschen Sprache tolerieren zu müssen, widersetzte sich spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Gruppe von Sprachforschern, die das Reine, Wahre und Gute der deutschen Sprache fördern wollten. Großen Zulauf erhielt diese Strömung im Ersten Weltkrieg, bei dem die Deutschen nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch für ihre Sprache kämpften. Albert Tesch begründet dies im Vorwort zu seinem Buch „Fremdwort und Verdeutschung. Ein Wörterbuch für den täglichen Gebrauch“ (Leipzig 1915) so: „Unser Volk hat in der Ausländerei große Opfer an kostbarem Sprachgut gebracht und wünscht für diesen Verlust an deutschem Wesen einen vollgültigen Ersatz. Daher ist es mit dem Ausbruche des Weltkrieges zu einem allgemeinen Kampfe gegen das Fremdwortunwesen gekommen“. Die Bewegung gipfelte in Publikationen wie dem ebenfalls 1915 von Oskar Kresse vorgelegten Büchlein „Verdeutschung entbehrlicher Fremdwörter mit Anhang: Deutsche Vornamen und ihre Bedeutung“. Es enthält rund 15.000 verdeutschte Fremdwörter und fremdsprachliche Sinnsprüche sowie über 700 deutsche Vornamen. Kresse wie auch sein Kollege Tesch schlagen vor, Aeroplan, Perron oder Trottoir durch Flugzeug, Bahn- bzw. Bürgersteig zu ersetzen. Das hat ja immerhin geklappt!

LTI – Viktor Klemperer und seine Analyse der Sprache der Nationalsozialisten

LTI. Notizbuch eines Philologen, Viktor Klemperer, 1947, Inv.-Nr. 51/633 © DHM

Die niedrige Inventarnummer verrät es: „LTI. Notizbuch eines Philologen“ war eines der ersten Bücher, welches das im Januar 1952 eröffnete Museum für Deutsche Geschichte der DDR erworben und in den Bestand der neu gegründeten Museumsbibliothek aufgenommen hat. Die Buchstaben LTI stehen für Lingua Tertii Imperii, die Sprache des sogenannten Dritten Reiches. Der Autor des 1947 erstmals erschienenen Buches war der Romanist und deutsche Literaturwissenschaftler Viktor Klemperer, der als protestantischer Konvertit jüdischer Herkunft während des Dritten Reiches mit Berufsverbot belegt und antisemitischer Verfolgungen durch das NS-Regime ausgesetzt war. Überlegungen zur Analyse nicht nur der Sprache der Nationalsozialisten, sondern auch deren bildlicher Ausdrucksformen stellte Klemperer bereits seit 1934 an und nahm damit das erst 2008 erschienene Werk „NSCI. Das visuelle Erscheinungsbild der Nationalsozialisten 1920-1945“ von Andreas Koop teilweise vorweg. Nach dem Krieg, als Klemperers berufliche Zukunft zunächst ungewiss war, beschäftigte er sich weiter mit der Sprache des Dritten Reiches. Schon der knappe Titel LTI ist eine ironische Anspielung auf die exzessiv genutzten Abkürzungen der Nationalsozialisten: BDM, DAF, KdF, NSDAP, NSKK, SS und so weiter. Klemperer kritisiert an der Sprache der Nationalsozialisten gleich im ersten Kapitel den Gebrauch von „Fremdausdrücken“: „Garant klingt bedeutsamer als Bürge und diffamieren imposanter als schlechtmachen. (Vielleicht versteht es auch nicht jeder, und auf den wirkt es dann erst recht.)“ (S. 15). Klemperer analysiert die Lingua Tertii Imperii akribisch, seziert sie gleichsam und deckt zahlreiche sprachliche Stereotype auf, die zur Verrohung der Gesellschaft führen mussten. Besonders eindrücklich zeigt er dies an Hitlers und Goebbels‘ Vorliebe für Sport-Metaphern, die häufig aus dem Boxsport kamen.

Vielleicht wäre die Lektüre von Klemperers LTI ein Anlass, angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine wieder einmal über das eigene Sprechverhalten nachzudenken. Wie oft stehen wir an vorderster Front, tauchen ab, gehen in Deckung oder führen Grabenkämpfe? Oder sind wir in Bombenstimmung, müssen uns am Riemen reißen, etwas miteinander ausfechten oder schwere Geschütze auffahren? Sprache ist mächtig. Und sie macht etwas mit uns.

© DHM/Thomas Bruns

Matthias Miller

Matthias Miller ist Leiter der Bibliothek und der Sammlung Handschriften / Alte und wertvolle Drucke am Deutschen Historischen Museum.