Direkt zum Seiteninhalt springen

Nach dem Tode Stalins im Jahr 1953 waren auch im sowjetischen Kino Ende der 1950er Jahre neorealistische Ansätze zu beobachten. Jedoch endeten der Optimismus der Tauwetter-Zeit und die Hoffnungen auf ein neues, besseres Leben bereits Mitte der 1960er Jahre. Liberalisierungen wurden zurückgenommen, eine militaristische Rhetorik verschaffte sich erneut Gehör, soziale Missstände nahmen zu. Neue Repressionen erstickten die kurz zuvor gewonnenen Freiheiten.

Der Mangel an Atemluft kennzeichnet auch die sowjetischen Nach-Tauwetter-Filme. Natürlich war eine direkte politische Kritik in den sowjetischen Filmen jener Jahre nicht möglich, alle Drehbücher durchliefen eine mehrstufige Zensur. Aber der gesellschaftliche Grundkonflikt, der Widerspruch zwischen dem Persönlichen und Privaten einerseits und dem Gesellschaftlichen und Öffentlichen andererseits, war in den Jahren der Stagnation präsent und erreichte seinen Höhepunkt in der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Die Protagonisten der Nach-Tauwetter-Filme quält eine innere Unruhe und Unstetigkeit. Sie sind – unabhängig davon, wie gut sie situiert sind – mit ihrem Leben nicht zufrieden, weder im Beruf (wie die Protagonistinnen in den Filmen Kurze Begegnungen und Einige Interviews zu persönlichen Fragen), noch in der Familie (wie in Die Frau ist gegangen). Sie laufen davon, möchten von einem Leben in ein anderes flüchten.

Zunehmend entwickelte sich in den Jahren der gesellschaftlichen Stagnation das Familiendrama zu einem „Protest-Genre“, in dem die Autorinnen und Autoren ansprachen, was nicht direkt gesagt werden konnte, weil es nicht gesagt werden sollte. In ihren Familiengeschichten fragen sie nach dem Platz des Menschen in der sowjetischen Gesellschaft und erzählen von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihres Landes. Lev Tolstoj beginnt seinen Roman Anna Karenina mit dem berühmten Satz „Alle glücklichen Familien ähneln einander, jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ Das „Unglück“ der Familien in den Filmen der Nach-Tauwetter-Zeit ist die tragische Diskrepanz zwischen den Wünschen und Möglichkeiten. Der Konflikt zwischen dem privaten und öffentlichen Leben erzeugt ein starkes Verlangen, aus der Institution Familie, die die Verbindung zwischen dem Staatlichen und dem Privaten darstellt, auszubrechen.

Die Regisseurinnen Kira Muratova, Lana Gogoberidze und Dinara Asanova wuchsen in der Sowjetunion auf, wo die Gleichberechtigung der Geschlechter früher als andernorts behauptet wurde. Sie erlebten die Diskrepanz zwischen erklärter Absicht und sowjetischer Realität. Ihre Sichtweisen ermöglichen dem Publikum einen direkten Vergleich von geschlechterspezifischen Blicken auf familiäre und gesellschaftliche Probleme im Kino der Sowjetunion zwischen 1966 und 1979, dem Jahr des Einmarschs sowjetischer Truppen in Afghanistan und der zweiten Ölkrise – zwei Ereignisse, die eine entscheidende Rolle beim Zerfall der Sowjetunion spielten. (Konstantin Shavlovsky)

Die Retrospektive Kurze Begegnungen ist Teil des Projekts Russian Seasons, mit dem sich die russische Kultur 2019 in Deutschland präsentiert. Für den Bereich Film haben Peter Bagrov, Leiter der Filmabteilung des Georges Eastman Museum in Rochester, und der Filmkritiker Konstantin Shavlovsky das Programm kuratiert.

Rückblick