Dokumentarische Positionen: Pavel Schnabel
Sein Blick für Details und die alltäglichen, oft unbewussten Verhaltensweisen von Menschen ist einzigartig, sein Interesse für Widersprüche und komplexe Zusammenhänge faszinierend. Mitte der 1960er Jahre nimmt der in Olomouc geborene und im nordböhmischen Liberec aufgewachsene Pavel Schnabel ein Kamerastudium an der renommierten Prager Film- und Fernsehakademie FAMU auf. Doch schon drei Jahre später, als im August 1968 Truppen des Warschauer Paktes in die ČSSR einmarschieren und gegen die Reformziele eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ vorgehen, sieht Schnabel in seinem Heimatland keine Zukunft. Er verlässt Prag in Richtung Westen.
In der Bundesrepublik angekommen, nimmt Pavel Schnabel mit Alexander Kluge Kontakt auf, in dem er einen Filmverbündeten sieht und der ihn mit Studierenden des Instituts für Filmgestaltung in Ulm zusammenbringt. Wenig später ist der versierte Kameramann aus dem Osten bereits Mitglied des Frankfurter Filmkollektivs Eppelwoi Motion Pictures. An der Seite von Jeanine Meerapfel, Ingeborg Nödinger, Rolf Scheimeister, Klaus Werner und Marion Zemann entstehen nach Drehbüchern von Reinhard Kahn und Michel Leiner vier gemeinsame Filmprojekte.
Die 1977 gedrehte Hommage an August Sander ist Schnabels erste eigene Produktion: ein Kurzfilm, dessen künstlerische Handschrift und dokumentarische Methode für spätere Arbeiten prägend wird. Gewöhnliche Menschen als Träger*innen der (Mikro- und Makro-)Geschichte; in ihren alltäglichen Umgebungen gefilmt; Gesprächssituationen, die Mentalitäten erschließen; die Erinnerung an verdrängte Geschichte, an Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung, insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus.
Ab Ende der 1970er Jahre folgen Produktionen vor allem für das öffentlich-rechtliche Fernsehen, im Team mit anderen Autoren oder alleine realisiert, allesamt „Herzensprojekte“ des eigensinnigen Dokumentaristen. Sie widmen sich Ost-West-Beziehungen, politischen Umwälzungen, der Geschichte europäischer Jüdinnen und Juden und den antisemitischen Kontinuitäten nach der Shoah. In diesen genau komponierten, gelegentlich mit tiefgründigem Bild- und Montagewitz ausgestatteten Filmen scheint alles einen genauen Platz zu haben. Schnabels Protagonist*innen vor seiner Kamera danken es ihm mit einer ungewöhnlichen Offenheit und ihrer Bereitschaft, die eigenen Lebenswelten zu zeigen – ehemalige, gegenwärtige oder mögliche. (Borjana Gaković)