Zwischenzeit
Die 90er Jahre in den Filmproduktionen von Viola Stephan

In den 90er Jahren – einer Zeit, in der geopolitische Räume neu geordnet werden – begegnet Viola Stephan Menschen, die die Auswirkungen einer Zwischenzeit erleben. Es ist ein Jahrzehnt der Transformationen, der Umbrüche, Verschiebungen und Neuordnungen. Geduldig und mit offenem Blick beobachtet die Filmemacherin diese Veränderungen. Ihr Talent, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und Bilder und Töne in poetischen dramaturgischen Formen zu gestalten, lassen Filme entstehen, die die komplexen Lebensgefühle dieser Jahre festhalten – in Berlin, Polen, New York und Russland.
Geboren in Heidelberg, studiert Viola Stephan Slavistik und Osteuropäische Geschichte in Berlin und London. Sie schließt ihr Studium mit einer Promotion ab und zieht 1977 nach New York, wo Stephan Theaterstücke inszeniert und an der New York University Film studiert. Drei Jahre später entstehen ihre ersten Dokumentarfilme. 1989 lebt Stephan schon seit einigen Jahren wieder in Berlin, als mit dem Fall der Berliner Mauer ihr Lebensmittelpunkt zu einem Ort wird, an dem sie wie unter einem Brennglas beobachten kann, wie sich Alltagsleben verändert. 1992 entsteht Kriegsende, der Menschen unterschiedlicher Herkunft folgt, die in der nunmehr mauerfreien Stadt unter den neuen Bedingungen zurechtzukommen versuchen. Wenig später weitet sich bereits Stephans Blick. Ślask–Schlesien (1994) ist eine Erkundung Schlesiens, Borowitschi (1996) eine vielschichtige Beobachtung der russischen Provinz. Stephans Filme gleichen Seismographen historischer Begebenheiten, die aufzeichnen, wie diese Biografien geprägt haben und immer noch beeinflussen. Heute, über 35 Jahre nach dem Mauerfall bieten Stephans Filme reichhaltig Material für eine andere Geschichtsschreibung aus der Perspektive dieser Menschen und Orte.
Stephans Filme liefen auf zahlreichen internationalen Festivals, gerieten jedoch in den letzten Jahren in Vergessenheit. Erstmals werden jetzt sechs Filmproduktionen in digitalen Restaurierungen gezeigt. Zwischenzeit: Die 90er Jahre in den Filmproduktionen von Viola Stephan berücksichtigt dabei auch Wegbegleiter von Stephan wie zum Beispiel Victor Kossakovsky, mit dem sie wiederholt zusammenarbeitete – als Produzentin und bei der Projektentwicklung – und der für die Bildgestaltung von Borowitschi verantwortlich war.
Ganz im Sinne von Karl Schlögels Buch Im Raume lesen wir die Zeit sind es Filme wie diejenigen Stephans, mittels derer wir die Zeit lesen können. Viola Stephan ist eine sensitive Filmemacherin, die Stimmungen kartographiert und Bilder im zufälligen Moment ihrer größten Aussagekraft montiert. Die Menschen, denen sie begegnet, werden nicht zu bloßen Figuren ihrer Filme, sie bleiben im Transit ihrer Zeit Menschen – Menschen, die gelebt haben, leben und leben werden. (Vivien Buchhorn)
Die von Vivien Buchhorn kuratierte Werkschau Zwischenzeit: Die 90er Jahre in den Filmproduktionen von Viola Stephan wird vom Hauptstadtkulturfonds gefördert. Kooperationspartner sind der Delphi Filmpalast, das Arsenal – Institut für Film- und Videokunst, das Stadtmuseum Berlin und SREDA FILM GmbH. Zeitgleich zur Filmreihe ist in der Berliner Nikolaikirche eine von Florian Wüst eingerichtete Installation unter anderem mit Ausschnitten von Viola Stephans Kriegsende zu sehen. Die digitalen Restaurierungen wurden vom Programm FFE Filmerbe gefördert, die Konzeptentwicklung und Archivsichtung begleitete die Produzentin Jana Cisar, die technische Verantwortung lag bei PHAROS – The Post Group.