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Kernstück des Filmprogramms der 14. und bis dato letzten documenta waren 2017 diverse Retrospektiven zu zeitgenössischen Experimental- und Dokumentarfilmregisseuren – darunter eine vollständige Werkschau des Chinesen Wang Bing, in der unter anderem die programmatisch betitelte und seitdem leider nicht mehr oft gezeigte Arbeit 15 Hours zu einem Kinoeinsatz kam. Außerdem widmete sich die Reihe TV Politics in sechs Programmen radikalen Fernseharbeiten aus verschiedenen Kontinenten und präsentierte unter anderem Nagisa Ōshimas Mini-Serie The Dawn of Asia. Dazu passend wurde die Weltkunstausstellung erstmals von einem eigenen TV-Programm begleitet: Der öffentlich-rechtliche griechische Sender ERT zeigte jeden Montag um Mittenacht einen experimentellen Spiel- oder Dokumentarfilm – die genaue Auswahl lässt sich aus dem minimalistischen Filmprogramm-Flyer des Jahrgangs allerdings nicht extrahieren und überhaupt hat es mit Blick auf die offizielle Informationsvergabe den Anschein, dass die Bewegtbildreihen auch bei dieser Ausgabe eher unter ferner Liefen stattfanden.

Demgegenüber nehmen installative Arbeiten spätestens seit den 1980er Jahren in der documenta-Bedeutungshierarchie eine exponierte Stellung ein und werden meist über besondere Dispositiv-Arrangements in das Ausstellungsgeschehen integriert. So war 2017 unter dem Titel Commensal in der Kasseler Tofufabrik Véréna Paravels und Lucien Castaing-Taylors kontroverses Porträt des Kannibalen Issei Sagawa als 16mm- und DV-Zwei Kanal-Installation zu erleben. Nach seinem documenta-Einsatz wurde das Material zu dem 90-Minuten-Film Caniba umarrangiert und auf diversen Festivals gezeigt. Während Paravels und Castaing-Taylors schwindelerregendes GoPro-Fischerei-Werk Leviathan (2017) breite Rezeption erfuhr, blieb Caniba allerdings eher ein Geheimtipp – was an der besonders schwerverdaulichen Thematik des Films liegen dürfte.

Der aus wohlhabenden Verhältnissen stammende Japaner Issei Sagawa ermordete 1985 in Paris eine niederländische Kommilitonin und verstümmelte, aß und vergewaltigte ihren Leichnam danach mehrere Tage. Auf Grund rechtlicher Formalitäten wurde er nach nur wenigen Monaten freigelassen.

Überwiegend mit direkt am Gesicht klebender Kamera und in sehr nahen Close-Ups porträtiert Caniba den nunmehr greisen, mit seinem BDSM-begeisterten Bruder zusammenlebenden Sagawa im doppelten Wortsinn aus nächster Nähe. Ein tief verstörendes Seherlebnis, das auf eines der krudesten Happy Endings der Filmgeschichte zusteuert. (chl)