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Als „lesender Filmemacher” bezeichnet er sich selbst. Ausgangspunkt des vielleicht wagemutigsten unter Sallmanns literarischen Dokumentarfilmen ist ein Sehnsuchtstext: 1919, zwei Jahre nach der von ihr als Trauma empfundenen Oktoberrevolution schreibt die Russin Marina Iwanowna Zwetajewa Über Deutschland, in Erinnerung an einen Sommer knapp zehn Jahre vorher, den sie in einem Kurort bei Dresden verbracht hatte. Auch Bernhard Sallmann filmt bei Dresden, genauer gesagt über Dresden: Die Dresdner Standseilbahn hebt ihn mitsamt Kamera empor, der Blick sucht die Weite, die Distanz, das Erhabene – in Übereinstimmung mit Zwetajewas Text, der vom deutschen Geist schwärmt, seiner Ungebundenheit, seinem direkten Draht zum Absoluten. Und auch von deutscher Dichtung. Ein Buch wie Heine schreiben, das wär’s.

Was uns in der Gegenwart von Zwetajewas Text trennt, wird im Film mit keinem Wort erwähnt und ist doch in jeder Sekunde präsent: die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Zweite Weltkrieg und der Holocaust, die deutsche Katastrophe, die die Sätze der Russin zwar nicht entwertet, aber radikal historisiert und als ein zwar unsichtbarer, aber gleichwohl nicht zu kittenden Abgrund zwischen Bild und Ton klafft. (lf)