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Wenn Peter Nestler vom Rückgrat seiner Filme spricht, dann meint er deren Haltung. Dieser bisweilen inflationär gebrauchte Begriff bekommt im Gestus seiner Arbeiten neue Bedeutung: Nicht nur geht es um eine bloße politische Haltung, sondern um etwas Sich-Haltendes, Überdauerndes, durch sämtliche Stürme Stehenbleibendes. Es geht darum, das zu filmen, was ist und nicht das, was Diskurse vorschreiben. Diese Haltung entwächst einer ganz eigenen Poetologie des Dokumentarischen, die Nestler über mehr als 60 Jahre entwickelt hat. Sie verbindet tiefgehende Recherchen mit einem präzisen, kunstlosen Stil, der von knappen, einprägsamen Worten begleitet wird. Die Haltung entwickelt sich zu einer widerständigen und sinnlichen Dringlichkeit, die den Ungerechtigkeiten von Geschichte und Gegenwart nachspürt. 

In seinen Dokumentar- und Lehrfilmen begibt sich Nestler in verschiedene Themengebiete wie Krieg, Arbeitsverhältnisse, Ausbeutung und Strukturwandel, die Zerstörung der Natur durch industrielle Eingriffe, Antisemitismus, Antiziganismus und immer wieder auch (Neo-)Faschismus. Es sind so unbequeme wie poetische Filme. Der kürzlich verstorbene Filmemacher Jean-Marie Straub bezeichnete Nestler einst als „nicht versöhnten Filmemacher“. Schon in den 1960er Jahren haftete den Filmen etwas Aus-der-Zeit-Gefallenes an, denn sie besitzen eine auf die äußere Wirklichkeit gerichtete Klarheit, die im Kino und im auf individualisierte, dramatisierte Geschichten gerichteten Dokumentarfilmmodus von TV-Anstalten wie ein Fremdkörper wirkt. Ein dringend benötigter Fremdkörper.

Nestlers Kommentare erklären nicht, sie zeigen auf. Das macht den Reichtum der Filme aus und ihre Komplexität. Der Dokumentarfilmemacher Hartmut Bitomsky hat Nestler einmal einen Nacherzähler genannt, „die Kraft, die er mitteilt, geht nicht von ihm aus, sie geht von den Dingen aus durch ihn hindurch.“ (Filmkritik 9/1979). Nestler selbst hat einmal Bertolt Brecht zitiert im Zusammenhang mit seiner eigenen Arbeit: „Die Wahrheit herauszugraben unter dem Schutt des Selbstverständlichen, das Einzelne auffallend zu verknüpfen mit dem Allgemeinen, im großen Prozess das Besondere festzuhalten, das ist die Kunst der Realisten“ – oder der Dokumentaristen, möchte man da ergänzen.

Nestler wurde 1937 in Freiburg im Breisgau geboren. Als junger Mann heuerte er auf Frachtschiffen an, lernte in Übersee die Folgen des Kolonialismus kennen – eine für sein politisch-gesellschaftliches Selbstverständnis prägende Erfahrung. Sein Kunststudium in München finanzierte er durch Arbeit auf dem Bau oder als Darsteller in Unterhaltungsfilmen. Anfang der 1960er Jahre drehte er erste kurze Dokumentarfilme, die von Orten und Landschaften handeln, in die sich die Geschichte und der Mensch eingeschrieben haben. Aufträge von öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern folgten, bis ihm nach Von Griechenland (1965) vorgeworfen wurde, der Film sei „kommunistische Propaganda“ – was einem Arbeitsverbot in Deutschland gleichkam. Nestler ging daraufhin ins Arbeits-Exil nach Schweden, der Heimat seiner Mutter. Viele der dort entstandenen Filme drehen sich um Arbeit und Geschichte, auch die deutsche Geschichte wirkt weiter in den Filmen. Sie entstanden meist in enger Zusammenarbeit mit seiner Frau Zsóka; er hinter der Kamera, sie mit dem Mikrophon in der Hand. Erst seit den 1990er Jahren kann Nestler wieder regelmäßig in Deutschland arbeiten, bis heute. (Patrick Holzapfel, Frederik Lang)

Mehr als 60 Dokumentarfilme sind im Laufe der Jahrzehnte entstanden, von denen der überwiegende Teil im Rahmen der von Frederik Lang und Patrick Holzapfel kuratierten Retrospektive gezeigt werden kann. Die Retrospektive Nicht versöhnt. Der Dokumentarfilmemacher Peter Nestler wird vom Hauptstadtkulturfonds gefördert und findet in Kooperation mit der Deutschen Kinemathek statt, die das Werk von Peter Nestler archiviert.