Zwischen staatlichen Zurichtungen und eigenen Perspektiven
Die Filmemacherin Gitta Nickel
Sie erlernte das Filmhandwerk ohne akademische Ausbildung von der Pike auf und wurde dank ihres Talents und Durchsetzungsvermögens in der Männerdomäne des DEFA-Dokumentarfilmstudios eine der wenigen Dokumentaristinnen, die sich über lange Zeit in ihrer Profession behaupten konnten. Von ihrem Debütfilm Wir verstehen uns (1965) bis zum Ende der DEFA 1992 drehte Gitta Nickel (1936-2023) über 60 Filme, viele davon im Auftrag oder als Produktionen des Fernsehens der DDR, jedoch keine staatlichen Auftragsfilme im damaligen Sinne.
Konsequenter als viele ihrer männlichen Kollegen stellte die im ostpreußischen Briensdorf geborene Filmemacherin Frauen in den Mittelpunkt, Protagonistinnen, die sie selbst aussuchte. Dabei versuchten ihre Filme, die widerspruchsreichen, sich ständig und rasant verändernden Verbindungen von Alltag und Arbeitswelt innerhalb der DDR offenzulegen.
Nickel sparte Widersprüche in den Lebenswegen der von ihr porträtierten Frauen nicht aus, etwa beim Dauerkonflikt, wie Beruf und Familie zu vereinen seien. Die staatlich verkündete Gleichberechtigung der Frau steht bei Nickel auf dem gesellschaftspraktischen Prüfstand. Defizite werden angesprochen, nicht als Thesendiskussion, sondern ganz konkret anhand des „Schicksals“ Einzelner. Hier fand Nickel auch den tieferen Sinn ihrer Arbeit: helfen beim Erkennen von individuellen Widersprüchen und daraus sich ergebenden Ansprüchen an andere, nicht zuletzt an die gesamte Gesellschaft. So gesehen, war und blieb Nickel eine Unruhestifterin.
Ein besonderes Kennzeichen von Nickels Filmen ist der häufige Verzicht auf Voice-Over zugunsten von Selbstauskünften der Protagonisten. Nickel fragte ihre Partner und ließ sie reden – und diese redeten bereitwillig, offenherzig, ohne Hemmungen und Einschüchterungen. Nickels Dokumentarfilme prägt, nimmt man alle Aspekte ihres Schaffens zusammen, eine spürbare Offenheit, Intimität und Nähe. Es sind Werke, die zwischen den Maßgaben der Staatspropaganda und dem eigenen subjektiven Blick einer formbewussten Filmkünstlerinnen changieren – und uns so ein vielschichtiges Vergangenheitsbild von Land und Leuten zu Zeiten der DDR zeichnen. (Günter Agde)



