Dokumentarische Positionen: Rainer Komers

„Es ist eine der großen Stärken des Kinos, das Triviale, Banale, Alltägliche wie das Unerhörte und das Erhabene gleichwertig sprechen und miteinander in Beziehung treten zu lassen.“ (Rainer Komers) Der 1944 im brandenburgischen Gruben geborene Filmemacher Rainer Komers hat sich in seinem sechs Dekaden umspannenden dokumentarischen Werk dem Alltäglichen angenommen – und darin unerhörte wie sublime Momente aufgespürt.
Alltag, das meint bei Komers in erster Linie die Arbeitswelt: sichere Handgriffe, körperliche Anstrengung, technische Abläufe, Vereinzelung, aber auch geselliges Beisammensein. Seine von ihm selbst geführte Kamera gestaltet präzise Bilder von Menschen, die routiniert, ohne viel Worte zu verlieren ihrer alltäglichen Arbeit nachgehen oder – wo dies in Gefahr ist – für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze kämpfen.
Wie ein roter Faden zieht sich dabei die Schilderung von Um- und Abbrüchen im Ruhrgebiet – Komers Wahlheimat – durch sein Werk. Das westdeutsche Ballungszentrum und die mit der Geschichte des Nationalsozialismus eng verwobene Schwerindustrie sind in Komers Filmen wichtige Schauplätze von Not, Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Mit Empathie und Sympathie begegnen seine Filme den Arbeitenden, schon seit den frühen 1980er Jahren setzen sie sich außerdem mit rassistischem und faschistischem Gedankengut in der Ruhrregion auseinander.
Ab den späten 1990er Jahren weitet sich Komers Blick in zweierlei Hinsicht. Zum einen verschlägt es Komers häufiger in die Ferne, zum anderen erprobt er neue Formen dokumentarischen Erzählens. Mit Filmen wie Nome Road System (2004), Kobe (2006) und Ma’rib (2007) entstehen poetische, ohne Sprache komponierte „Reiseberichte“. Imposante (Kultur-)Landschaften stehen gleichwertig neben menschlichen Verhaltens- und Lebensweisen in all ihren Facetten. Komers Kino ist spätestens von nun an eines der aufgeschnappten Rhythmen und Klänge. Es verzichtet auf einen erklärenden Reportagestil, wie ihn das Fernsehen oftmals diktiert, und räumt uns Zeit ein, das „Alltägliche“ wie das „Unerhörte“ sinnlich zu erfassen.
Die neue Ausgabe der Reihe Dokumentarische Positionen, die dokumentarisches Filmschaffen jenseits des Mainstreams würdigt, präsentiert mit den Filmen Rainer Komers ein Œuvre, das sich seit Jahrzehnten neugierig Menschen und ihren alltäglichen Kämpfen mit Gesellschaft und Natur zuwendet und das auf ein Publikum vertraut, das ebenfalls neugierig ist und selbstbestimmt hinschaut und -hört. (Tilman Schumacher)
Tilman Schumacher ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und kuratiert Filmprogramme, unter anderem für das Leipziger GEGENkino-Festival, das 2024 eine Hommage an Rainer Komers präsentierte.