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In den späten sechziger Jahren wird das BRD-Kino (durch-)lässig. Nachdem die Schwabinger Krawalle im Juni 1962 den Bruch zwischen den 1950ern und 1960ern besiegelt haben, drängen die Langzeit-Studenten und Hippies, Herumtreiber und Gammler, Leistungsverweigerer und Lebenskünstler auf die Leinwand und machen ein neues, diffuses Lebensgefühl zwischen Hedonismus und Ermattung, Aufbruchsstimmung und Resignation, Lehre und sozialer Hängematte sichtbar: La Deutsche Vita als Gegenentwurf zur spät-wirtschaftswunderbaren Leistungsgesellschaft auf der einen, zum rigorosen Dogmatismus der alten Linken auf der anderen Seite. Die virile Kernigkeit der Halbstarken weicht einer von Grund auf skeptischen Schluffigkeit.

In seiner vieldiskutierten Fernseharbeit Herbst der Gammler aus dem Rezessionsjahr 1967 beobachtet Peter Fleischmann das Phänomen noch aus der zwar interessierten, aber distanzierten Perspektive eines quasi-ethnologischen Cinéma Vérité. Im Kino allerdings wird es zumindest von den um Modernisierung bemühten Triebkräften an den Rändern der Produktion rasch umarmt. Ein neuer Archetyp nimmt im Kino der alten BRD Kontur an. Er vagabundiert durch alle Genres, erweist sich aber vor allem für die von Problemfilm-Auflagen freien Komödie der sechziger und siebziger Jahre als kontinuierlich produktiv gemachte, affirmativ genutzte Figur, die zur sozialen Realität ein enges Austauschverhältnis unterhält. Was die „Gammlerfilme" aus der Wirklichkeit der jungen Generation aufgreifen, geben sie ihr in Form semantischer Verdichtung und popkultureller Codes zurück. Ohne viel Aufhebens prägen Schauspieler wie Werner Enke, Marquard Bohm und Rolf Zacher Habitus und versinnbildlichte Physiognomie einer Generation und stehen fortan synonym für die von ihnen skizzierte Attitüde. Die „Schwabingkomödien“ und Gammlerfilme bilden somit ein reiches Archiv bundesrepublikanischer Mentalitätsgeschichte.

Die improvisierten Lebensentwürfe korrespondieren mit einer improvisierten Inszenierungsweise: Das junge Kino ist schnell, unstet, nervös, skeptisch gegenüber klassischen Formen. In ihrem Raum- und Lebensweltverständnis betreten die Gammlerfilme buchstäblich Neuland. Insbesondere das hohe Maß an Mobilität sticht ins Auge: Autobahnen und Bahnhöfe bilden wiederkehrende Kulissen und verweisen auf ein Leben im permanenten Provisorium eines verstetigten Transits. Die Wohnstuben bürgerlicher Sesshaftigkeit weichen der lässlich eingerichteten Bude mit dem Bett – oft auch nur: der Matratze – als privilegiertem Aufenthaltsort. Den eigentlichen Ort des Geschehens bilden die Straßen des neu angeeigneten urbanen Raums, der Zufallsbegegnungen und rasche Ortswechsel gestattet und mit Cafés, Boutiquen und Clubs ebenfalls mehr und mehr auf Zwischennutzung setzt statt auf tatsächliche Behausung. Ganz nebenbei re-kartografieren die Gammlerfilme die BRD: Schwabing in München, Kreuzberg in Berlin, der Starclub in Hamburg bilden ein neues, loses Koordinatensystem.

In den achtziger Jahren verliert die Figur des Gammlers an Prägnanz. Wenn der Kleinunternehmer Theo 1980 seinem gestohlenen LKW nachhetzt, stellt dies auch eine allegorische Rückkehr in die Arbeitswelt dar. In den Blödelfilmen der 1980er Jahre gerinnt der Gammler zum bloßen Repertoire. Eine späte Ausnahme bilden zwei irreale Grotesken mit bzw. von Helge Schneider, der die Figur als eine Art Don Quixote der Jazz-Bohème vor der Tristesse des Ruhrgebiets im Kampf gegen die Windmühlräder der Arbeitswelt in Szene setzt.

Wir danken Thomas Groh für seine Mitarbeit am zweiten Teil der Reihe Lachende Erben.

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