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Das europäische Kino der Moderne hat eine Reihe prominenter Kinderfiguren hervorgebracht: wie Bruno in Ladri di biciclette (Fahrraddiebe), Antoine in Les Quatre Cents Coups (Sie küßten und sie schlugen ihn) oder Ana in El espíritu de la colmena (Der Geist des Bienenstocks). Kinder als Laiendarsteller, die mit ihrer Präsenz vor der Kamera eine semidokumentarische Arbeit herausfordern, waren von besonderem Reiz für Regisseurinnen und Regisseure, die nach neuen Formen suchten, um der zeitgenössischen Lebensrealität Ausdruck zu verleihen und einen kritischen Blick auf gesellschaftliche Wirklichkeiten zu werfen. Mit Kinderfiguren als Verkörperungen eines Neuanfangs wurde die zweifelhaft gewordene Zukunft in einem von Krieg, Völkermord und Diktaturen moralisch und materiell zerstörten Europa befragt. Kinder fungierten aber auch als Protagonisten eines neuen, anderen Blicks auf die Welt: der Hingabe an eine ursprüngliche Schaulust oder an die Logiken der Fantasie. Sie verkörperten das Versprechen einer ästhetischen wie ethischen Erneuerung.

Auch im deutschen Kino der Jahre 1945 bis 1989 finden sich eine Reihe von Beispielen, in denen Kinderfiguren als Mittler der Gegenwart und Vergangenheit auftreten: im Neuen Deutschen Film und im DEFA-Film, der seit den 1950er Jahren eine starke Kinderfilmproduktion vorzuweisen hat, aber auch in Vorläufern der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie spiegeln die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und die daraus resultierenden Autoritätskonflikte der ‚vaterlosen Generationen’, die vor allem in den 1960er bis 1980er Jahren als Regisseurinnen und Regisseure das deutsche Kino erneuerten.

Schon in den ersten, noch in den Ruinen der Nachkriegszeit gedrehten Filmen wie Deutschland im Jahre Null oder Irgendwo in Berlin sind Kinder Kronzeugen für gesellschaftliche Defizite oder Utopien. In ihren Leiden, ihrer Einsamkeit oder ihren Verbrechen artikuliert sich eine harsche Kritik an den „Zumutungen der Gegenwart“, am Verfall der Familie, an moralischen und sozialen Missständen. Das „Kind als Streuner und Reisender“ vermittelt dagegen meist einen optimistischen Zugang zur Wirklichkeit: es emanzipiert sich von den Erwachsenen und reist mit einem neugierig-unvoreingenommenen Blick durch deutsche Landschaften: Sei es die Ostseeküste in Die Reise nach Sundevit, das Ruhrgebiet in Alice in den Städten, Ostberlin in Sabine Kleist, 7 Jahre oder eine als Schauplatz griechischer Mythologie verkleidete bayerische Seelandschaft in Das goldene Ding.

In den 1980er Jahren treten autobiografisch motivierte Auseinandersetzungen mit der deutschen Vergangenheit in den Vordergrund. Mit dem „Blick zurück“ auf die eigene Kindheit schaffen Regisseurinnen wie Helma Sanders-Brahms oder Marianne Rosenbaum im Zuge der Frauenbewegung Gegenerzählungen zur vom männlichen Blick dominierten Geschichtsschreibung und thematisieren die Nachwirkungen von NS-Zeit und Krieg auf nachkommende Generationen. Die Kindheitserinnerung motiviert, wie auch in dem DEFA-Film Kindheit von Siegfried Kühn, eine mehr oder weniger radikal andere Ästhetik.

Die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinemathek präsentierte und von Bettina Henzler (Universität Bremen) kuratierte Reihe Kinder-Spiele, Kinder-Blicke lädt dazu ein, deutsche Nachkriegsgeschichte und –realität im Blick filmischer Kinderfiguren wahrzunehmen. Wir lesen die Filmgeschichte quer zu filmgeschichtlichen oder zuschauerbezogenen Einteilungen und fragen danach, wie Kindheit und Kinder im Kino die Perspektive ästhetisch und narrativ verschieben. Weitere Informationen zu dem Forschungsprojekt auf www.filmundkindheit.de/ (Bettina Henzler)

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