Frohe Feiertage und alles Gute für das neue Jahr 2026
Miniatur „Das Weltenei“ aus dem Rupertsberger Scivias-Kodex, Nonnen der Abtei St. Hildegard, nach dem Original von Hildegard von Bingen, verschollenes Original ca. 1175, Handkopie ca. 1930
© Abtei St. Hildegard, Rüdesheim-Eibingen
Wenn Hildegard von Bingen aus einem Fenster ihres Klosters schaute, blickte sie die Flusslandschaften von Rhein und Nahe hinunter, die am Fuß des Rupertsbergs zusammenfließen. Sie sah eine Welt voller Zeichen. Für sie war die Natur keine Ansammlung von Tieren und Pflanzen in sich wandelnden Wetterverhältnissen und Jahreszeiten.
Natur war göttliche Offenbarung. Sie musste entziffert werden. Denn, so Hildegard, „in allen Geschöpfen, das heißt in den Tieren, in den Kriechtieren, in den Flugtieren und in den Fischen, in den Kräutern und in den fruchttragenden Bäumen”, lägen „gewisse verborgene Geheimnisse Gottes”.1
Dem Kosmos mit seinen Planeten und Sternen gab sie die Form eines Eies. Wie ein Dotter schwebt darin die Erde. Die eiförmige Struktur lässt sich vom Heiligen Geist ableiten. Dieser wurde auch schon im 12. Jahrhundert häufig als Taube dargestellt, in Anlehnung an ein Bibelzitat, wonach „der Geist wie eine Taube vom Himmel” herabfährt (Joh. 1,32). Symbolisch bezieht sich das Ei demnach auf die Taubengestalt des Heiligen Geistes, aus dem der Kosmos hervorgeht. Die Spitze weist nach Osten, hin zum himmlischen Jerusalem. In diese Richtung deuten die Sterne und Planeten, zunächst der Mond, dann Venus, Merkur, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn.
Das Bild gehört zur Visionsschrift Scivias, ein Titel, für den Hildegard die beiden lateinischen Worte sci und viaszusammenfügte, zu Deutsch „Wisse die Wege”. Für die Abfassung hatte Hildegard als erste Frau in der abendländischen Geschichte die Erlaubnis des Papstes erhalten. Das aufwendige Bildprogramm ließ sie gegen Ende ihres Lebens erstellen. Ihr Kloster verfügte über eine eigene Schreibstube, sodass die Äbtissin, Autorin und Visionärin die dort arbeitenden Nonnen bei der Umsetzung anweisen konnte. Das Original ist seit 1945 verschollen, zuvor waren jedoch eine exakte farbige manuelle Kopie sowie Schwarzweißfotografien angefertigt worden.2 […]
Dieser Text von Julia Voss ist ein Auszug aus „Natur und deutsche Geschichte. Im Spannungsfeld von Glaube, Biologie und Macht”, dem Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. In der Ausstellung ist die Miniatur „Weltenei” vergrößert noch bis zum 7. Juni 2026 zu sehen.
Mehr Infos zur Ausstellung und dem Begleitband:
1 Hildegard von Bingen, Heilkraft der Natur. Physica. Das Buch von dem inneren Wesen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe, hrsg. von der Basler Hildegard-Gesellschaft, Augsburg 1991, S. 7. Die Überlieferungsgeschichte der heilkundlichen Schriften ist verwickelt. Die Frage, welche Teile davon gesichert Hildegard von Bingen zugeschrieben werden können, ist daher wissenschaftlich nicht abschließend geklärt. Vgl. Wallis 2021.
2 Zur Schreibstube auf dem Rupertsberg vgl. Fassler 2023 sowie Fassler 2024, S. 25.