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Richard Wagner hat das 19. Jahrhundert in ganz unterschiedlichen Positionen erlebt und geprägt: als wirkmächtiger Komponist und angestellter Hofkapellmeister, als Autor, als Revolutionär, als Exilant, als Bankrotteur, als Protegé wohlhabender Mäzene und eines Königs, als Theaterreformer, als Festspielgründer. In der Ausstellung „Richard Wagner und das deutsche Gefühl” (8. April bis 11. September 2022) zeigt das Deutsche Historische Museum Wagner nicht nur als Zeugen und Kritiker der politischen und sozialen Umbrüche seiner Zeit, sondern als umstrittenen Künstler und Unternehmer, der gesellschaftliche Befindlichkeiten strategisch in seinem Werk aufzugreifen und als „Deutschtum” zu inszenieren wusste.

In Deutschland und ganz Europa wurde ab den 1840er Jahren zunehmend Widerspruch gegen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der Moderne laut. Auch Richard Wagner gehörte zu den Kritikern der fortschreitenden Industrialisierung und des Kapitalismus. Gleichzeitig wäre sein künstlerischer Aufstieg ohne einen modernen Kunst- und Musikmarkt nicht denkbar gewesen. Im Deutschen Historischen Museum wird Wagner als Gefühlstechniker sichtbar, der in einer zunehmend kommerzialisierten Welt den gesellschaftlichen Stellenwert der Kunst und des Künstlers neu verortete. Dafür entwickelte er Vermarktungsstrategien, in denen Emotionen eine wesentliche Rolle spielten. Seine Vorstellungen vom Musikdrama als Gesamtkunstwerk waren auch eine Kritik an der Moderne und damit von dem Anspruch geprägt, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern.

Wagner und die Nationalisierung von Gefühlen

Ausgehend von der starken Polarisierung, die Richard Wagner bis heute auslöst, setzt die Ausstellung sein Leben und Werk in Bezug zu den Strömungen und Stimmungen seiner Epoche. Sie rückt vier Grundgefühle des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt, die als treibende Kräfte die Zeitumstände wie auch Wagners Vorstellungen prägten: Entfremdung und Zugehörigkeit, Eros und Ekel. Die vier Kapitel gehen der Frage nach, wie Wagner gesellschaftliche Gefühlszustände wahrnahm und künstlerisch auf diese reagierte: Welche konkreten Gefühle inszenierte und konstruierte er? Wie lehrte er sein Publikum zu fühlen und – in seinem späteren Werk – sich deutsch zu fühlen? Und welche Rolle spielten seine Schriften in diesem Prozess?

Wagners künstlerisches Schaffen steht besonders im Kontext der nach der Reichsgründung in Politik, Wissenschaft und Kunst allgegenwärtigen Suche nach einer deutschen Identität. Auch deshalb gewann in seinen Kompositionen die Frage, wer dazu gehören solle und wer nicht, an Bedeutung. Originale Objekte wie das Reichskanzler Otto von Bismarck gewidmete Gedicht „Dem deutschen Heere” (1871) verdeutlichen, wie das spezifisch „Deutsche” in seinem Schaffen zur Marke und gemeinschaftlich erlebte Gefühlsinszenierungen von „Volk” und „Nation” zum Maßstab wurden. Die verschiedenen Versionen seiner Hetzschrift „Das Judenthum in der Musik” aus den Jahren 1850 und 1869 veranschaulichen, dass Wagners ausgeprägter Antisemitismus und sein Nationalismus untrennbar Hand in Hand gingen. In seiner eigens für die Ausstellung geschaffenen Installation „Schwarzalbenreich“ wird Regisseur Barrie Kosky die Museumsgäste in eine Black Box führen: Darin erleben sie in absoluter Dunkelheit eine Klangcollage, die ins Jiddische übertragene Wagner-Zitate über die jüdische Sprechweise mit Passagen der beiden antisemitisch überzeichneten Figuren Alberich und Mime aus „Der Ring des Nibelungen” sowie mit synagogalem Gesang vermischt.

Die Ausstellung von Kurator Michael P. Steinberg und Co-Kuratorin Katharina Schneider präsentiert neben hochkarätigen Leihgaben aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Frankreich teils selten gezeigte Originalobjekte aus der DHM-Sammlung: Persönliche Aufzeichnungen und Gegenstände Wagners, Gemälde, Zeichnungen, Manuskripte, Briefe und Fotografien setzen Wagners Denken und Schaffen in Beziehung zu verschiedenen Etappen des 19. Jahr-hunderts. In jedem Kapitel laden Inszenierungsausschnitte, Hörstationen und Kurzinterviews mit Wagner-Interpretin Waltraud Meier und Opernregisseur Stefan Herheim dazu ein, das jeweilige Grundgefühl in seinen Zeitbezügen wahrzunehmen. Zuletzt wirft der Epilog Schlaglichter auf das historisch wechselhafte deutsche Verhältnis zu Wagner. Die Ausstellung endet mit einer Reihe aktueller Stimmen aus Kultur, Wissenschaft und Politik zu seiner Bedeutung in der Gegenwart.

Karl Marx und Richard Wagner: Zwei Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts

2022 widmet sich das Deutsche Historische Museum zwei deutschen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts: den Zeitgenossen Karl Marx (1818-83) und Richard Wagner (1813-83). Beide hatten enorme Wirkung auf das 19., das
20. und anhaltend auch das 21. Jahrhundert. Und beide wurden von politisch entgegengesetzten Lagern zu Ikonen erhoben: Marx von links, Wagner von rechts. Bis auf wenige Jahre haben sie die gleiche Welt erlebt, die gleichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche beobachtet, aber letzten Endes sehr unterschiedliche Schlüsse daraus gezogen: Marx wollte die Moderne überholen, Wagner sie neu entwerfen.

Parallel zur Ausstellung „Richard Wagner und das deutsche Gefühl” ist die Ausstellung „Karl Marx und der Kapitalismus” (10. Februar bis 21. August 2022) im DHM zu sehen: Sie zeigt Marx als scharfen Kritiker der Moderne und des Kapitalismus. Im Mittelpunkt stehen Themen, die auch heute nichts von ihrer Brisanz verloren haben: religions- und gesellschaftskritische Kontroversen, Antisemitismus, Revolution und Gewalt, neue Technologien, Naturzerstörung, globale Wirtschaftskrisen sowie internationale Protest- und Emanzipations-bewegungen. Marx’ Historisierung verbindet die Ausstellung dadurch auch mit Fragen nach seiner Aktualität. Gleichzeitig wirft sie einen kritischen Blick auf die weltweite Rezeption seiner Theorien im 20. und 21. Jahrhundert.