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Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können

More Story. Oder: Die Geschichte hinter der Ausstellung

Das digitale Angebot „More Story” zur Ausstellung „Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können” bietet die Möglichkeit, unabhängig vom Museumsbesuch Hintergrundinformationen und Einblicke zu bekommen. Projektleiter Fritz Backhaus spricht mit Historiker Dan Diner über den geschichtsphilosophischen Ansatz, alternative Möglichkeiten historischer Geschichtsverläufe darzustellen und gleichzeitig eine kontrafaktische Erzählung zu vermeiden. Raphael Gross, Präsident des Deutschen Historischen Museums, ordnet die Ausstellung in die Programmatik unseres Hauses ein. Die Kuratorinnen Julia Franke und Lili Reyels berichten über Herausforderungen und Erkenntnisse der Arbeit an der Ausstellung.

Roads
Taken
not
Ausstellung
9.12.2022–11.01.2026

Entlang von 14 markanten Daten der deutschen Geschichte präsentiert „Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können” einen Rückblick auf einschneidende historische Ereignisse von 1989 bis 1848. Dabei werden tatsächlich erfolgten Wendungen mögliche Verläufe gegenübergestellt, die nicht eingetreten sind – jedoch ohne eine alternative oder gar kontrafaktische Geschichtserzählung entwerfen zu wollen. In der von dem Historiker Dan Diner konzipierten Ausstellung geht es vielmehr darum, wie wahrscheinlich eine im Geschehen angelegte Entwicklung gewesen wäre, die der Geschichte eine andere Richtung gegeben hätte. Unter der Projektleitung von Fritz Backhaus wird die Ausstellung von Julia Franke, Stefan Paul-Jacobs und Dr. Lili Reyels kuratiert.

„Es geht uns nicht darum, eine andere oder gar fiktive Geschichte zu erzählen. Ziel ist viel mehr, mittels der Perspektive von realen Möglichkeiten das wirklich Eingetretene umso schärfer herauszustellen. Kurz: Die Wahrnehmung von potenziellen Möglichkeiten erlaubt uns die gewesene Wirklichkeit besser zu verstehen.“

Dan Diner, Historiker und Vorstand der Alfred Landecker Foundation

„Es wird nicht etwas erzählt, was fiktional ist, weil es keine Science-Fiction-Ausstellung ist. Aber es ist eine Ausstellung, die immer wieder an wichtige Punkte in der Geschichte zurückgeht und genau das macht, was eigentlich Historikerinnen und Historiker immer tun: Sie versuchen sich hineinzuversetzen in eine historische Situation und fragen, warum ist es eigentlich so passiert?“

Raphael Gross, Präsident des Deutschen Historischen Museums

Für diese in einem historischen Museum ungewohnte Perspektive wird nicht nur aus kuratorisch-inhaltlicher, sondern auch auf der Ebene der Ausstellungsgestaltung Neues erprobt. Auf 1.000 m² veranschaulicht die Ausstellung, dass Geschichte keine lineare Erzählung ist – sondern vielmehr eine Aneinanderreihung von mehr oder weniger wahrscheinlichen Szenarien. Zu sehen ist dies in stark künstlerisch-inszenierten „Bildern“, die einen Blick auf die angelegte, aber ausgebliebene historische Möglichkeit geben. Dem gegenüber stehen in einem „Wirklichkeitsraum“ die historischen Ereignisse, die zu diesem Kippmoment führen.

Visualisierung des Ausstellungsraums zum Wendepunkt 1989

Visualisierung des Ausstellungsraums zum Wendepunkt 1989

© chezweitz GmbH

Mit Menschen besetzte Berliner Mauer

Mit Menschen besetzte Berliner Mauer

Berlin, 1989, Foto: Bundesregierung Klaus Lehnartz

Der Reigen dieser Einschnitte beginnt im Jahr 1989 mit der Friedlichen Revolution in der DDR und endet im Jahr 1848, als Deutschland erstmals den demokratischen Aufbruch wagte. Die Ausstellung greift in umgekehrter Reihenfolge Themen wie Ostpolitik, Mauerbau, Kalter Krieg, die Machtübernahme der Nationalsozialisten oder Revolution und Demokratisierung an entscheidenden Kipppunkten auf – und erläutert, dass es keineswegs hätte kommen müssen, wie es schließlich kam. Auf diese Art und Weise erscheinen Wegmarken wie die Stalinnoten von 1952, der Koreakrieg 1950, die Berliner Luftbrücke 1948/49, das Attentat auf Adolf Hitler 1944, die Rheinlandbesetzung 1936, die Machtübertragung auf Hitler 1933, der Sturz von Reichskanzler Brüning 1932, die Revolution 1918, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 oder der Deutsche Krieg 1866 in einem neuen Licht.

Demonstrationsschild mit Bezugnahme auf das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking

Demonstrationsschild mit Bezugnahme auf das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking

Ost-Berlin, 4. November 1989 © Deutsches Historisches Museum

1989 – Glücksfall: Revolution

Die meisten Menschen empfanden den Fall der Mauer 1989 als Glücksfall. Die auf der Mauer Tanzenden waren das ikonografische Bild einer Friedlichen Revolution ohne den Einsatz staatlicher Gewalt. Doch dieser Ausgang war nicht selbstverständlich. Die DDR hatte als erster Staat offiziell das Vorgehen der chinesischen Führung gegen die Demonstrierenden auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 gebilligt. Ein Militäreinsatz gegen die eigene aufbegehrende Bevölkerung schien daher auch in der DDR nicht ausgeschlossen, galt sogar als wahrscheinlich.

„Mit der Ausstellung erweitern wir das Format ‚historische Ausstellung‘ und fordern es geradezu heraus.“

Julia Franke, Kuratorin
Panzer am Checkpoint Charlie in Berlin 1961

Panzer am Checkpoint Charlie in Berlin 1961

Aufnahmedatum: 28.10.1961 © picture alliance / dpa / dpa

1961 – Furcht: Der Mauerbau

Das berühmte Bild, in dem sich im Oktober 1961, zwei Monate nach dem Mauerbau, sowjetische und amerikanische Panzer am Checkpoint Charlie gegenüberstanden, ist Ausgangspunkt der Betrachtung. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Angst vor einem Krieg, der mit atomaren Waffen geführt wird, prägend. Mit dem Bau der Mauer in Berlin im August 1961 rückte diese Gefahr in bedrohliche Nähe. Bereits in den 1950er Jahren war das Handeln der beiden deutschen Staaten geprägt von Vorbereitungen auf den nuklearen Ernstfall. Auch wenn dieses Szenario letztlich nicht eintrat, versuchten Militär und Politik, sich darauf vorzubereiten. Der Zivilschutz entwarf Strategien für die Bevölkerung, das Anlegen eines Notvorrats wurde zur Bürgerpflicht.

„Die historischen Alternativen, die wir versuchen zu zeigen, beruhen auf historischer Forschung, auf echten Quellen, auf anderen historischen Fakten. Und weil die Daten so bekannt sind, gibt es zu vielen dieser Themen seit Jahrzehnten eine große Debatte unter Historiker*innen.“

Lili Reyels, Kuratorin
Dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. wird von der Deputation der Frankfurter Nationalversammlung am 3. April 1849 im Rittersaal des königlichen Schlosses in Berlin die deutsche Kaiserkrone angetragen

Dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. wird von der Deputation der Frankfurter Nationalversammlung am 3. April 1849 im Rittersaal des königlichen Schlosses in Berlin die deutsche Kaiserkrone angetragen

April 1848, Holzstich (Reproduktion) © bpk

1848/49 – Scheitern: Revolution

Im Revolutionsjahr 1848 forderte das Bürgertum in Deutschland demokratische Freiheiten. Es kam zur Konstituierung eines gesamtdeutschen Parlaments, der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, die eine Verfassung ausarbeitete. Der fehlende Schlussstein des Verfassungsbauwerkes war die Ernennung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser aller Deutschen. Am 2. April 1849 erreichte die Deputation von Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche den König, um ihm die Kaiserkrone anzutragen. In der Ausstellung ist der Weg der Volksvertreter mit Schiff und Eisenbahn zum Monarchen inszeniert. Zum großen Teil wurden die Abgeordneten auf ihrer Reise begeistert empfangen, das politische Ziel wurde jedoch nicht erreicht. Die Krone, so der preußische König, sei mit dem „Ludergeruch der Revolution” behaftet, er lehnte sie deshalb ab.