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Wolf Biermann ist einer der bekanntesten Liedermacher Deutschlands – Ost und West. Seine Ausweisung aus der DDR 1976 war eine politische Zäsur in der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte und das Eingeständnis großer Ratlosigkeit der SED-Parteiführung. Anders als weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler war Biermann zu populär geworden, um ihn in Haft zu nehmen und er war zu unberechenbar, um ihm öffentliche Auftritte zu erlauben. Viele seiner Lieder, Balladen und Gedichte haben den aktuellen Anlass ihrer Entstehung überdauert. „Warte nicht auf bessre Zeiten“, „Ermutigung“ oder „Ballade vom preußischen Ikarus“ sind Klassiker geworden.

Vom 7. Juli 2023 bis 14. Januar 2024 zeigt das Deutsche Historische Museum die Ausstellung „Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland”. Die von Monika Boll („Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert”) kuratierte Schau thematisiert das Leben und Werk Wolf Biermanns vor dem Hintergrund der besonderen Stellung, die die Kultur in der DDR einnahm: Seit Ende des Zweiten Weltkrieges gehörte die Berufung auf die Kulturnation, zunächst in Anbindung an die Weimarer Klassik, später als „sozialistische Kulturnation“ (Erich Honecker) zum Selbstbild des Staates. Kultur galt in der DDR als hohes Gut, an dem alle Menschen als aktive Arbeiterkünstlerinnen und -künstler teilhaben sollten. In einem Staat ohne freie Medien übernahm der Kulturbereich die Funktion des öffentlichen Raums. Das verschaffte der Kunst Sichtbarkeit und Anerkennung, machte sie aber auch zum Objekt von staatlicher Kontrolle und Zwang.

Die Ausstellung präsentiert das Leben und Schaffen des Lyrikers und Liedermachers in seiner Verwobenheit mit den (kultur-)politischen Ereignissen der deutsch-deutschen Zeitgeschichte. Nach einem Prolog folgt der chronologisch angelegte Rundgang in acht Themenräumen Biermanns biografischen, künstlerischen und politischen Wegmarken: 1936 in Hamburg geboren, wuchs er im kommunistisch geprägten Arbeitermilieu auf. 1953 siedelte Biermann noch als Schüler aus politischer Überzeugung in die DDR über.

Zwischen kulturellem Aufbruch und restriktiver Kulturpolitik

Die Ausstellung thematisiert erste Publikationen und Erfolge: Biermanns Arbeit als Regieassistent am Berliner Ensemble und als Leiter des Arbeiter- und Studententheaters b.a.t. sowie den umstrittenen Auftritt beim legendären Lyrik-Abend in der Akademie der Künste. Es begann die Phase des zähen Ringens Biermanns mit der Partei und der Partei um ihn. Mitte der 1960er Jahre folgten jedoch schon ein Auftritts- und Publikationsverbot infolge des 11. Plenums des Zentralkomitees der SED sowie eine anschließende fast lückenlose Observierung durch die Staatssicherheit. 

Ausbürgerung und Proteste

Nach 11 Jahren Auftrittsverbot fand am 13. November 1976 Wolf Biermanns berühmtes Konzert in Köln statt. Die darauffolgende Ausweisung war, wie heute bekannt ist, bereits vor dem Konzert beschlossen worden. In einem offenen Brief an die SED-Führung protestierten prominente Künstlerinnen und Künstler, darunter Stephan Hermlin, Sarah Kirsch, Manfred Krug, Armin Mueller-Stahl und Christa Wolf, gegen die Ausweisung Wolf Biermanns. Diese Art von offenem Protest hatte es zuvor in der DDR nicht gegeben.

Wolf Biermann in der Bundesrepublik

Für Biermanns künstlerisches und politisches Selbstverständnis bedeutete der erzwungene Wechsel von Ost nach West eine Herausforderung: Wie definierte sich ein Liedermacher neu, der sich bei aller Kritik an der SED-Führung als Kommunist und Exilant verstand? In der Bundesrepublik unterstützte Biermann die Friedensbewegung, die Anti-Atomkraft-Proteste und die Gründung der Partei Die Grünen.

Bürgerrechtsbewegung in der DDR

Als 1989 die Bürgerrechtsbewegung in der DDR erstarkte und die Regierung ins Wanken geriet, blieb Biermann vorerst Zaungast. Die Einreise zur Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz wurde ihm verweigert. Bei der Besetzung der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin 1990 votierte Biermann für den Erhalt der Stasi-Akten. Auf PDS und DIE LINKE als Nachfolgeparteien der SED blickt Biermann bis heute mit kritischer Distanz. Ebenso skeptisch sah er nach 1989 die Reformbereitschaft Russlands.

Jüdisches Selbstverständnis

Wolf Biermanns Vater Dagobert wurde 1943 als Jude und Mitglied des kommunistischen Widerstands in Auschwitz ermordet. Eine ausführliche Station ist Wolf Biermanns Familiengeschichte gewidmet. Unter der Dominanz eines sozialistischen Menschenbildes war jüdisches Leben in der DDR öffentlich kaum sichtbar. Dennoch war für Biermann ein jüdisches Selbstverständnis nicht erst nach seiner Ausweisung aus der DDR zentral.

Die kulturgeschichtlich angelegte Ausstellung zeigt auf 560 Quadratmetern rund 280 Objekte aus der DHM-Sammlung, dem Privatarchiv von Wolf und Pamela Biermann sowie bundesweiten Archiven wie der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, dem Bundesarchiv oder der Robert-Havemann-Gesellschaft. Besonders viele Exponate stammen aus der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, die 2021 den Vorlass Wolf Biermanns übernommen hat. Anhand von Lebens- und Familiendokumenten, Tagebüchern, historischen Audio- und Videoaufnahmen, Medienberichten, Musikinstrumenten, persönlichen Gegenständen, Fotografien, Kunstwerken und Plakaten aus Ost und West wird ein politisches Leben und künstlerisches Schaffen sichtbar, das aufs Engste mit der deutsch-deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft ist. Zu sehen sind unter anderem Biermanns DDR-Schreibmaschine, ein Essensbehälter aus Wehrmachtsbeständen, in dem Biermanns Tagebücher vor der Staatssicherheit versteckt waren, seine erste Langspielplatte „Chausseestraße 131“ oder eine Observationskamera, Abhörwanzen und ein Umlaufkarteigerät, wie sie die Staatssicherheit für Biermanns zuletzt nahezu lückenlose Überwachung einsetzte.

Biermanns kontroverse Lieder, Balladen und Gedichte – oft Anlass und zugleich Kommentar kulturpolitischer Ereignisse – sind als Zeitzeugnisse aus sechs Jahrzehnten in der Ausstellung präsent. Eine zentrale Medieninstallation widmet sich überdies gezielt dem Künstler Wolf Biermann und seinem Werk im Spiegel der zeitgenössischen Kunstkritik zwischen 1962 und 2016. Eine Kinderspur und ein Begleitheft für Kinder richten sich an jüngere Museumsgäste im Alter von
8 bis 12 Jahren.

Ausstellungsbegleitend erscheint im Ch. Links Verlag eine umfangreiche Publikation in deutscher Sprache (224 Seiten, ca. 80 Abbildungen) mit Beiträgen von Roland Berbig, Holger Böning, Gerd Dietrich, Marcus Heumann, Ilko-Sascha Kowalczuk, Monika Linder, Sabine Sanio, Hendrikje Schauer, Manuel Soubeyrand, Hannes Stein, Gabriele Stötzer und Stefan Wolle, mit Liedern und Gedichten von Wolf Biermann sowie mit teils bislang unveröffentlichten Fotografien.

Ein Begleitprogramm sowie ein Kinoprogramm vertiefen und ergänzen in der zweiten Jahreshälfte 2023 die Themen der Ausstellung.

Pressekonferenz: Mittwoch, 5. Juli 2023, 11 Uhr, Pei-Bau

Erste hochauflösende Pressefotos stehen im Pressebereich der DHM-Website zur Verfügung.