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Das nationalsozialistische Deutschland herrschte auf dem Höhepunkt seiner Macht über fast ganz Europa. Etwa 230 Millionen Menschen in heute
30 Ländern lebten unter deutscher Besatzung. Auf welche Weise verarbeiteten die betroffenen Nachkriegsgesellschaften die Erfahrung von Gewalt und Vernichtung, die der Zweite Weltkrieg und die NS-Besatzung verursacht hatte? Ein bisher übersehenes, aber historisch prägendes Medium der Auseinandersetzung waren Ausstellungen, die unmittelbar nach Kriegsende in ganz Europa organisiert wurden. In Zeiten sozialer Not, politischer Instabilität, anhaltender Gewalt und unklarer Zukunftsperspektiven zielten sie darauf ab, die Auswirkungen des Holocaust und der nationalsozialistischen Verbrechen zu dokumentieren und zu visualisieren. Ab dem 24. Mai 2025 zeichnet das Deutsche Historische Museum mit
„Gewalt ausstellen: Erste Ausstellungen zur NS-Besatzung in Europa, 1945-1948“ erstmals die Geschichte dieses gesamteuropäischen Phänomens anhand früher Ausstellungen in London, Paris, Warschau, Liberec und Bergen-Belsen nach. Die Ausstellung ist in Zusammenarbeit mit dem Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzung in Europa“ (ZWBE) entstanden. Das Projekt geht davon aus, dass ein gemeinsames europäisches Erinnern und damit eine gemeinsame europäische Zukunft wesentlich auf dem geteilten Wissen über die Geschichte der deutschen Besatzung basiert.

Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum: „Die Gewalt der deutschen Besatzungsherrschaft hat in den europäischen Ländern tiefe Spuren hinterlassen. Viele der Verbrechen sind in Deutschland kaum bekannt. An diese Gewaltverbrechen zu erinnern, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands und eine Voraussetzung für die Bewältigung der Gegenwart. In einer Welt, in der Geschichtsverfälschung und neue Kriege die europäische und globale Ordnung herausfordern, ist es entscheidend, historisches Wissen zu vermitteln. Ein gemeinsamer Zugang zur Geschichte ist für die Gestaltung einer europäischen Gegenwart und Zukunft zentral – er muss aktiv gestaltet werden, sich an Quellen und Fakten ausrichten und unterschiedliche Perspektiven zusammenbringen. Genau dies wollen wir mit dem künftigen Dokumentationszentrum und unserer Ausstellung als erstem gemeinsamen Projekt fördern.“

Agata Pietrasik, Kuratorin der Ausstellung: „Ausstellungen sind ihrem Wesen nach zeitlich befristete Ereignisse. Sie hinterlassen verstreute Spuren in Archiven und Museumssammlungen. Unsere Aufgabe war es, diese Spuren zu sichern und die damaligen Ausstellungen wieder vorstellbar zu machen – nicht um sie zu rekonstruieren oder nachzuerleben, sondern um dem heutigen Publikum die Möglichkeit zu geben, sich ihre Räume und Gestaltungen vorzustellen, sich mit damals gezeigten Objekten auseinanderzusetzen und die jeweiligen Narrative nachzuvollziehen. Es ging uns auch darum, die Menschen hinter diesen frühen Ausstellungen sichtbar zu machen, die Stimmen ihrer Besucherinnen und Besucher einzufangen und Raum für eine kritische Auseinandersetzung mit den damaligen Inhalten und Kontexten zu schaffen.“

Das Medium der Ausstellung bot in der frühen Nachkriegszeit eine wirkungsvolle Antwort auf die drängende Frage, wie die beispiellosen deutschen Gewaltverbrechen erzählt und an ein breites Publikum vermittelt werden konnten. Ab 1945 zogen Ausstellungen über die jüngste Vergangenheit in Ost- wie Westeuropa hunderttausende Besucherinnen und Besucher an. Organisiert wurden sie von staatlichen Stellen und Kommissionen für die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen ebenso wie von formellen und informellen Gruppierungen Holocaustüberlebender und Verbänden ehemaliger politischer Häftlinge. Anhand von Fotografien, Filmen, Kunstwerken, Dokumenten und anderen Objekten erzählten die Ausstellungsmacherinnen und -macher in den unterschiedlichen Ländern eine jeweils eigene Geschichte von Krieg und Besatzung. Räume der Information wurden ebenso geschaffen wie Orte des Gedenkens und der Anklage. Damit erhielten die Besucherinnen und Besucher die Möglichkeit, ihre Erfahrungen als Bestandteil einer kollektiven Gewaltgeschichte wahrzunehmen, Wissen und Emotionen zu teilen, aber auch den Blick auf die Zukunft zu richten. Mit dem Beginn der Hochphase des Kalten Krieges im Jahr 1948 brachen diese länderübergreifenden Auseinandersetzungen mit den NS-Besatzungsverbrechen fast schlagartig ab. Die frühen Ausstellungen gerieten in Vergessenheit, zugleich prägen sie in den jeweiligen Ländern das Erinnern und Gedenken an die deutsche Besatzung bis heute nachhaltig.

London – Paris – Warschau – Liberec – Bergen-Belsen

Die Kuratorin Agata Pietrasik richtet den Blick auf sechs zwischen 1945 und 1948 entstandene Ausstellungen, die höchst unterschiedliche nationale Besatzungsszenarien in Polen, Frankreich und der Tschechoslowakei , die Kriegserfahrungen im nicht besetzten westalliierten Großbritannien und die Erfahrungen von Verfolgung und Massenmord jüdischer Displaced Persons im DP-Camp Bergen-Belsen veranschaulichten. Was diese bahnbrechenden Ausstellungen bei aller Unterschiedlichkeit und Vielschichtigkeit einte, waren die schonungslose Konfrontation mit der nationalsozialistischen Massengewalt und die Unmittelbarkeit, mit der sie die europaweite Dimension der deutschen Verbrechen in das öffentliche Bewusstsein rückten.

So zeigte die Londoner Fotoausstellung „The Horror Camps” (Die Lager des Schreckens) unter dem Motto „Sehen heißt glauben“ bereits ab dem 1. Mai 1945 im Lesesaal des Daily Express drastische Aufnahmen aus kurz zuvor von den Alliierten befreiten Konzentrationslagern, die später auch in europäischen Gerichtssälen als Beweismittel zum Einsatz kamen. Die französische Wanderausstellung „Crimes hitlériens“ (Hitlerische Verbrechen), die im Juni 1945 im Pariser Grand Palais eröffnete, war der erste Versuch, sich mit der Kollaboration des Vichy-Regimes auseinanderzusetzen. Zugleich entstanden erste Ansätze einer europäischen Erzählung über die deutsche Besatzung. Im massiv zerstörten Warschau richtete das Nationalmuseum 1945 mit der Wanderausstellung „Warszawa oskarża“ (Warschau klagt an) den Blick auf die Zerstörung des nationalen Erbes und nach vorn auf den Wiederaufbau der polnischen Hauptstadt. Drei Jahre später zeigte das Jüdische Historische Institut mit „Martirologye un kamf / Martyrologia i walka“ (Martyrium und Kampf) die erste Dauerausstellung über die Verfolgung und Ermordung der polnischen Juden. Noch während der Vertreibung der deutschen Bevölkerung eröffnete 1946 im tschechoslowakischen Liberec (Reichenberg) die Gedenkstätte „Památník nacistického barbarství“ (Gedenkstätte der Nazi-Barbarei). Die Macher rekonstruierten in ebenjener Villa, in der NS-Gauleiter Konrad Henlein nach der Enteignung der jüdischen Familie Hersch seinen Wohnsitz hatte, zentrale Schauplätze der NS-Gewaltverbrechen. Mit „Undzer veg in der frayhayt“ (Unser Weg in die Freiheit) fand 1947 in Bergen-Belsen eine der größten Ausstellungen in einem DP-Lager statt. Hier zeigten jüdische Überlebende ihre Sicht auf die erlittene Katastrophe, dokumentierten die Wiedergeburt jüdischen Lebens und stellten auch den anhaltenden Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland dar.

Brüche und Kontinuitäten

Im Fokus der Ausstellung im DHM stehen die unterschiedlichen Formen und Inhalte, mit denen diese wirkmächtigen Nachkriegsschauen die Gewaltereignisse, den Widerstand, die Täterinnen und Täter sowie den Verlust des kulturellen Erbes thematisierten. Eingebettet in den jeweiligen lokalen und nationalen Kontext analysiert die Kunsthistorikerin Agata Pietrasik die damaligen Bildsprachen und vergleicht die Quellen. Dabei werden die dargebotenen Deutungsnarrative über die unmittelbare Kriegsvergangenheit und die unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen sichtbar, die sich in den frühen Ausstellungen niederschlugen. Die DHM-Ausstellung fragt auch nach der Motivation und spezifischen Perspektive der damaligen Beteiligten und untersucht die Wirkung der Schauen, die zum Teil durch ganz Europa wanderten. So wird nicht nur deutlich, was die damaligen Ausstellungsmacherinnen und -macher gezeigt und was sie nicht thematisiert haben. Es treten auch Kontinuitäten zu Tage, die die Darstellung der deutschen Gewaltgeschichte in Europa und das Erinnern und Gedenken bis heute prägen und gelegentlich auch eintrüben.

Die Ausstellung im Erdgeschoss des Pei-Baus präsentiert auf rund 400 Quadratmetern rund 360 Exponate aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Polen und Tschechien, darunter 80 Originalobjekte. Zu sehen sind unter anderem Schautafeln und Gästebücher aus den damaligen Ausstellungen, teils erstmals gezeigte Fotografien dieser Ausstellungen, Filme, Bücher, Dokumente, Landkarten, Kunstwerke und Plakate. Film- und Hörstationen dokumentieren Reaktionen damaliger Besucherinnen und Besucher. In Interviews kommen Museumsfachleute, Nachkommen damaliger Ausstellungsbeteiligter oder Vertreter von Opfergruppen, die in den frühen Schauen teils kaum repräsentiert waren, zu Wort. Begleitend ist im Ch. Links Verlag auf Deutsch und Englisch eine reich bebilderte Publikation mit 15 Essays internationaler Expertinnen und Experten erschienen.

Europäisches Begleitprogramm, Führungen und Filmreihe

Ausstellungsbegleitend lädt das DHM von Mai bis Oktober 2025 zur europäischen Veranstaltungsreihe „Facing Nazi Crimes: European Perspectives after 1945 ein. Das vom DHM und dem ZWBE konzipierte Begleitprogramm widmet sich an den Orten der zwischen 1945 und 1948 organisierten Ausstellungen – Paris, Warschau, London, Liberec und Bergen-Belsen – deren gesellschaftlichen und historischen Kontexten. Eine Abschlussveranstaltung findet in Berlin statt. Im Rahmen der Reihe diskutieren internationale Gäste mit dem Ausstellungsteam, in welchem Verhältnis die Ausstellungen zur frühen dokumentarischen, rechtlichen, politischen und historischen Auseinandersetzung mit der deutschen Besatzung und ihren Verbrechen standen. Wie wurden sie rezipiert und welchen Einfluss hatten sie auf die Erinnerungskultur bis heute? An sechs Abenden werden zentrale Aspekte der frühen Ausstellungen, ihrer Entstehung und Wirkung präsentiert und mit Expertinnen und Experten debattiert. Die eintrittsfreie Veranstaltungsreihe wird online ausgestrahlt und ist anschließend digital abrufbar.

Durch die Berliner Ausstellung führen während der Laufzeit regelmäßig Expertinnen und Experten, die in der musealen Darstellung der NS-Verbrechen neue Wege beschritten haben und reflektieren über das Verhältnis von „Gewalt ausstellen – gestern und heute“.

Das Zeughauskino präsentiert in Zusammenarbeit mit dem ZWBE und dem DFG-Langfristvorhaben „Bilder, die Folgen haben – Eine Archäologie ikonischen Filmmaterials aus der NS-Zeit˝ von Mai bis Juni 2025 die ausstellungsbegleitende Retrospektive „Bezeugen und erzählen. Frühe Bilder befreiter Lager˝.

Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzung in Europa“ (ZWBE)

Zwischen 1939 und 1945 brachte Deutschland über weite Teile Europas Entrechtung, Leid, Zerstörung und Tod. Die Kriegführung wie auch der Umgang mit der Zivilbevölkerung waren in hohem Maße verbrecherisch. Die Shoah sowie der Völkermord an den Sinti und Roma waren in der Geschichte beispiellos. In den ehemals besetzten Gebieten wirkt die Gewalt bis in die Gegenwart nach. Um dies zu würdigen, beschloss der Deutsche Bundestag die Gründung eines Dokumentationszentrums in Berlin und betraute das DHM mit der Realisierung. Das zukünftige Zentrum wird die europäische Dimension der deutschen Besatzung vermitteln und Raum zum Gedenken geben. Im Fokus steht die Erfahrung der Opfer, besonders auch bisher weniger beachteter Opfergruppen.

Weitere Informationen unter: dhm.de/zwbe