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Antisemitismus

Die in Deutschland seit der Revolution von 1848/49 immer stärker geforderte Gleichberechtigung des jüdischen Bevölkerungsteils war in der Reichsverfassung von 1871 verankert. Damit war die Emanzipation der etwa 512.000 Juden im Deutschen Reich (1,25 Prozent der Gesamtbevölkerung) formal abgeschlossen. Doch gegen die Assimilation der Juden wandte sich eine antisemitische Propaganda, deren Judenfeindschaft nicht mehr nur religiös, sondern rassisch begründet wurde. Schon in der Wirtschaftskrise der 1870er Jahre waren Rassismus und Antisemitismus vernehmbar. Wenig später entstanden die ersten antisemitischen Parteien.

 

Aus der theologisch-historischen Literatur des späten 18. Jahrhunderts hatten Sprachwissenschaftler und Völkerkundler den Begriff "Semiten" übernommen. Dessen linguistisch-ethnologischer Gebrauch diente der Beschreibung des "Volkscharakters" der Juden. Durch Hinzufügung von Elementen der "Rassenlehre" wurde aus dem "Volkscharakter" im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein weitgehend unabänderlicher "Rassencharakter". Die Verschiedenartigkeit wurde nun als Verschiedenwertigkeit verstanden. "Jüdischen Geist" setzten die Antisemiten gleich mit allen negativen Auswirkungen der Modernisierung, vor allem mit Kapitalismus und Ausbeutung, aber auch mit Sozialismus und Marxismus. Diesem "seelenlosen Materialismus" wurde der "deutsche Idealismus" als positiv besetzter Wert gegenübergestellt.

Als der Börsenkrach von 1873 mit der wirtschaftlichen Stagnation in die "Gründerkrise" überging, wurden auch Juden dafür verantwortlich gemacht. Der Berliner Journalist Otto Glagau (1834-1892) sah bei angeblich unlauteren Geschäftspraktiken und wilden Börsenspekulationen von Juden die Ursache der Krise. Der Journalist Wilhelm Marr kritisierte in seinem 1879 veröffentlichten Pamphlet "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum" den wirtschaftlichen und politischen Einfluss der Juden; zugleich begründete er den Antisemitismus rassisch. Auch eine bekannte Persönlichkeit wie der Historiker Heinrich Treitschke (1834-1896) sprach 1879 von "einer schweren Mitschuld", die das "Semitentum" an dem "Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwesens" gehabt habe. Zur "Judenfrage" erschienen zwischen 1873 und 1890 mehr als 500 Schriften. In Berlin entbrannte ein heftiger "Antisemitismusstreit". Über 250.000 Bürger unterzeichneten 1880/81 die "Antisemiten-Petition" gegen die rechtliche und soziale Gleichstellung der Juden. Getragen wurde der Antisemitismus im wesentlichen von Handwerkern, Kleinhändlern, Bauern sowie von Angehörigen der Führungs- und Bildungsschicht, die um ihren Bestand fürchteten. Mit seinen antiliberalen und antikapitalistischen Strömungen richtete der Antisemitismus sich insbesondere gegen die Freiheits- und Gleichheitsideale der Französischen Revolution.

Seit Anfang der 1890er Jahre betonten die Antisemiten den "Rassegedanken" immer stärker. Paul de Lagarde (1827-1891) forderte in seinen "Deutschen Schriften" die Einheit des deutschen Volkes in "Rasse und Religion". Und in den 1899 von Houston Stewart Chamberlain, dem Schwiegersohn Richard Wagners, veröffentlichten "Grundlagen des 19. Jahrhunderts" war die Rede von der "germanischen" bzw. der "arischen Rasse", die nach den vielen "Vermischungen mit Juden" ihre "Reinheit" unbedingt wiedererlangen müsse. Als "Juden-Schutztruppe" wurden die freisinnigen Parteien bezeichnet, die sich aus liberaler Überzeugung für die Gleichstellung der Juden einsetzten. Zum Kampf gegen den Antisemitismus gründeten Angehörige christlicher und jüdischer Konfessionen 1891 den "Verein zur Abwehr des Antisemitismus", zwei Jahre später schlossen sich weite Kreise des liberalen Bürgertums in Berlin zum "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" zusammen.

Der Hofprediger Adolf Stoecker trug den Antisemitismus mit seiner Christlich-Sozialen Arbeiterpartei ab 1878 in die parteipolitische Auseinandersetzung. Er wollte die Arbeiterschaft der "unchristlichen" und "unpatriotischen" Sozialdemokratie entziehen. Stoecker erhielt 1879 ein Mandat für das Preußische Abgeordnetenhaus und 1881 eines für den Reichstag. Seine Partei schloß sich von 1881 bis 1896 der Deutschkonservativen Partei an, deren Programm den Kampf gegen den "zersetzenden jüdischen Einfluß" forderte. Zu den bekanntesten antisemitischen Parteien, die sich ebenso häufig zusammenschlossen wie sie sich spalteten, zählten die 1889 von dem ehemaligen Offizier Max Liebermann von Sonnenberg gegründete Deutschsoziale Partei sowie die 1890 gegründete Antisemitische Volkspartei des kurhessischen Archivars Otto Boeckel, die sich beide 1914 zur Deutschvölkischen Partei verbanden. Boeckel ließ sich als erster Abgeordneter in den Reichstagsalmanach als "Antisemit" eintragen.

Einen Höhepunkt erreichten die antisemitischen Parteien 1893, als sie bei den mit 2,9 Prozent der Stimmen 16 Mandate errangen. Danach verloren die antisemitischen Parteien zwar an Einfluss, aber Verbände und Vereine wie der politisch einflussreiche Bund der Landwirte, der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband als wichtigste Gewerkschaftsorganisation der Angestellten, die Vereine deutscher Studenten, studentische Korporationen und Burschenschaften sowie nicht zuletzt der Alldeutsche Verband und der Reichshammerbund bekannten sich eindeutig und nachdrücklich zum Antisemitismus. Traditionell antisemitisch eingestellt war auch das im Kaiserreich hoch angesehene Offizierskorps.

Zur zukünftigen Bedeutung der "Judenfrage" erklärte das Hamburger Programm der Vereinigten Antisemitenparteien 1899, die "Judenfrage" werde sich im 20. Jahrhundert zur "Weltfrage" entwickeln; sie könne nur "durch völlige Absonderung und ... schließliche Vernichtung des Judenvolkes gelöst werden".

Burkhard Asmuss
22. Oktober 2015

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