> Kaiserreich

Kunst und Kultur

Viele Künstler und Intellektuelle brachen ab 1890 mit der geschichtsorientierten, als konservativ und traditionsverhaftet abgelehnten Kunst und Kultur des Kaiserreichs. In ihrer bewussten Suche nach der Moderne entwickelten sie in der Malerei, Musik und Literatur, im Theater und in Städtebau und Architektur eine Vielzahl neuer Stile und Formen. Die zum Teil vehemente Ablehnung des Herkömmlichen und Konventionellen trieb nicht nur das Schaffen einer künstlerischen Avantgarde voran, sondern umfasste durch die entstehende Reformbewegung zahlreiche Lebensbereiche. Die Kunst der Jahrhundertwende ist gekennzeichnet durch eine fast unüberschaubare Fülle verschiedener, oft in krassem Widerspruch stehender Stile und Formen, durch ein gleichzeitiges Nebeneinander von traditionellem Akademismus und kulturellem Aufbruch. Doch trotz aller Neuerungen blieb die Kultur auch weiterhin von gesellschaftlicher Tradition geprägt.

Die Bildende Kunst des 19. Jahrhunderts war stark durch die Historienmalerei geprägt. Maler dieser Stilrichtung wie Karl von Piloty (1826-1886), Adolph Menzel und Anton von Werner bildeten wichtige historische Momente und bedeutende Persönlichkeiten ab. Sie verbanden historische Themen und politische Ereignisse zumeist mit einer patriotischen Botschaft. Zahlreiche Gemälde wie "Der König überall" von Robert Müller (1859-1895) zeigen Ereignisse und Begebenheiten aus dem Leben von Friedrich dem Großen (1712-1786). Bei vielen Deutschen genoss dieser preußische König große Popularität. Die Friedrich-Begeisterung wurde nach der Reichseinigung 1871 Teil des preußischen und gesamtdeutschen Nationalmythos. Kaiser Wilhelm II. sah sich ausdrücklich in der Tradition seines in der Außenpolitik erfolgreichen und von ihm besonders verehrten Ahnherrn.

Nach der Reichsgründung erfreuten sich insbesondere Gemälde großer Beliebtheit, die den Sieg im Deutsch-Französischen Krieg thematisierten. Zu den bekanntesten Schlachtenmalern der Zeit zählten Wilhelm Camphausen (1818-1885) und Georg Bleibtreu (1828-1892). Der Militärmaler Carl Röchling (1870-1920) schuf mehr als ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende mit der Darstellung des Todes des Majors von Hadeln in der Schlacht bei Gravelotte (1897) eines der bekanntesten Gemälde über den Krieg 1870/71. Wie die meisten Darstellungen über den Deutsch-Französischen Krieg akzentuiert auch dieses Gefechtsbild nicht die Führungsrolle eines Einzelnen. Der Sieg gegen Frankreich 1871 war nicht das Werk einzelner Persönlichkeiten, sondern der gesamten deutschen Bevölkerung - so die Botschaft dieses Bildes.

Neben der vom kaiserlichen Hof geförderten Historienmalerei eines Anton von Werner gewannen um die Jahrhundertwende Sezession und Avantgarde an Bedeutung. Immer neue Vereinigungen opponierten gegen die offizielle Kunstpolitik und Förderung des Konventionellen. Mit unabhängigen Ausstellungen verhalfen sie neuen Stilen wie Naturalismus oder Impressionismus zum Durchbruch. Zu den bedeutendsten Vertretern des deutschen Impressionismus gehörte Max Liebermann, der mit anderen Künstlern 1898 die "Berliner Secession" gründete, zu deren Vorsitzenden er im folgenden Jahr gewählt wurde.

Durch Abspaltung und Neugründungen bildeten sich immer neue, zum Teil stilprägende Künstlervereinigungen. Um 1905 kam in Deutschland der Expressionismus auf. Er zeichnete sich durch eine starke Farbigkeit und durch Abstraktion aus. Die Maler der "Neuen Secession" (1910/11) und der folgenden "Freien Secession", der von Wassily Kandinsky in München initiierten Gruppierungen "Phalanx" (1901), "Neue Künstlervereinigung" (1909) und "Blauer Reiter" (1911) sowie der in Dresden 1905 ins Leben gerufenen "Brücke" waren die Hauptvertreter dieses vom offiziellen Kunstbetrieb abgelehnten Stils. Durch ihre oft vehemente Ablehnung des Herkömmlichen und Konventionellen beeinflussten sie erheblich das Kunstschaffen nicht nur im Bereich der Malerei.

Auch das musikalische Schaffen reflektiert die Uneinheitlichkeit der wilhelminischen Gesellschaft. Stießen "moderne" zeitgenössische Komponisten wie Richard Wagner, Johannes Brahms und Anton Bruckner noch auf allgemeine Anerkennung, so begegnete man der Musik von Gustav Mahler oder Richard Strauss schon mit weniger Verständnis, ganz zu schweigen von der sich um 1910 entwickelnden atonalen Musik Arnold Schönbergs. Kaiser Wilhelm II., der sich gerne als neuer Lohengrin sah, verließ 1911 empört die Berliner Erstaufführung von Strauss' "Rosenkavalier" - einer Oper, die im Verleich zu den 1905 und 1909 entstandenen "Salome" und "Elektra" traditionelle, fast konservative Züge aufweist - und kommentierte sein Verhalten mit den Worten: "Det is keene Musik für mich!" Der Kaiser schwärmte für Giacomo Meyerbeers (1791-1864) komische Oper "Nordstern".

Der umfassende kulturelle Aufbruch stieß bei den konservativen Eliten auf heftige Kritik. Sie spiegelte die Uneinheitlichkeit und die durch eine allzu schnelle Industrialisierung und Verstädterung entstandenen tiefen Brüche in der wilhelminischen Gesellschaft wider. Weite Kreise der Bevölkerung blieben von den Debatten über die "neue Kultur" ausgeschlossen. Sie nahmen die Moderne nicht in der Kunst, sondern über die vielen technischen Neuerungen in ihrem Alltag wahr.

Ebensowenig wie die beiden genannten Kunstrichtungen ist die Literatur auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Auch hier beherrschte und belebte die Ablehnung des offiziellen akademischen wie gesellschaftlichen Kunstbetriebes weite Strecken des literarischen Schaffens. In zum Teil gegenläufigen, sich widersprechenden oder gar ausschließenden Kunst- und Stilvorstellungen erlebte das Kaiserreich ein gleichzeitiges Nebeneinander von naturalistischen, ästhetizistisch-symbolistischen sowie gesellschaftskritischen Roman-, Gedicht- und Dramenproduktionen. Naturalistische Schauspiele eines Gerhart Hauptmann waren für Kaiser Wilhelm II. "Rinnsteinkunst". Aus Protest gegen die erste öffentliche Aufführung von Hauptmanns Stück "Die Weber" kündigte der Kaiser 1894 demonstrativ seine Loge im Deutschen Theater. Der Durchbruch neuer Kunstformen war damit nicht aufzuhalten: Hauptmanns sozialkritisches Werk berührte die Menschen und eroberte die Bühnen der deutschen Städte. Hauptmanns Dramen der 1890er Jahre sind kaum zehn Jahre getrennt von Thomas Manns Roman "Buddenbrooks" oder den expressionistischen Gedichten Georg Heyms (1887-1912). Heinrich Mann lieferte in seinem Roman "Der Untertan" eine überspitzte Abrechnung mit der als spießbürgerlich dargestellten Scheinwelt der wilhelminischen Ära.

Lutz Walther / Arnulf Scriba
15. Juni 2022

lo