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    Richard Heymann: "Des Volkes Lebensquell", 1942

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Der „Lebensborn e.V.“ der SS

Der "Lebensborn" war weder eine karitative Einrichtung, wie es nach dem Krieg in dem Urteil eines US-Militärgerichts steht, noch war er eine Züchtungsanstalt, in der ausgewählte Männer und Frauen Kinder zeugten. Diese Vorstellung wurde ausgelöst durch Aufrufe von Reichsführer-SS Heinrich Himmler und dem "Stellvertreter des Führers" Rudolf Heß nach Kriegsbeginn Ende 1939: Soldaten sollten, bevor sie an die Front gingen, Kinder auch außerhalb der Ehe zeugen. Partei und "Lebensborn" würden sich notfalls um Mutter und Kind kümmern. Auch wenn der "Lebensborn" nicht für die Zeugung außerehelicher Kinder zur Verfügung stand, so diente er dennoch - ausgehend von der NS-Rassenideologie - auf spezifische Weise der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Rassenpolitik. Ziel war die Geburt möglichst vieler "rassisch wertvoller" Kinder. Denn Hitler benötigte für seine Kriegs- und Eroberungspläne ein millionenfaches Heer an Soldaten und Arbeitskräften.

 

Geschätzte 700.000 jährlich durchgeführte Abtreibungen beeinträchtigten aber die gewünschte hohe Geburtenrate. Unverheiratete Frauen nahmen seinerzeit einen Schwangerschaftsabbruch vor, um einer Diffamierung und sozialen Ausgrenzung zu entgehen. Damit diese Kinder dem Deutschen Reich nicht "verloren gingen" verfiel Heinrich Himmler auf die Idee, Möglichkeiten zur verschwiegenen Geburt zu schaffen. Er glaubte, damit würde der Grund für eine Abtreibung entfallen. Dies war die Geburtsstunde des "Lebensborn e. V." Der Verein wurde am 6. Dezember 1935 gegründet und war organisatorisch in die SS eingebunden. Im Deutschen Reich (einschließlich Österreich) besaß er neun Entbindungs- und zwei Kinderheime. Um im Krieg die unehelichen Kinder deutscher Besatzungstruppen unter deutschen Einfluss zu bringen, eröffnete er in Belgien, Frankreich, Luxemburg und Norwegen insgesamt 13 Entbindungs- und Kinderheime, davon zehn allein in Norwegen. Zwischen 1936 und 1945 kamen in seinen deutschen Heimen 8.000 bis 9.000 Kinder zur Welt, von denen knapp die Hälfte unehelich war. Außerdem wurden in Norwegen insgesamt 9.000 Kinder überwiegend unehelich geborenen.

Der "Lebensborn" übernahm für jedes in einer seiner Einrichtungen unehelich geborenes Kind die Vormundschaft. Er war daran interessiert, dass die Kinder möglichst bei ihren Müttern aufwuchsen. Darum war er bei der Arbeitsplatz- und Wohnungssuche behilflich. Konnten Kinder nicht bei ihren Müttern leben, nahm er sie für eine befristete Zeit in seine eigenen Kinderheime auf oder vermittelte sie in Pflegefamilien. Einer Adoption stimmte er nur in circa 100 Fällen zu. Der Beistand des "Lebensborn" für Mutter und Kind war keine karitative Hilfeleistung, sondern die Ausnutzung der Notlage lediger werdender Mütter für politische Zwecke. Bewarben sich Frauen um eine Heimaufnahme, wurden sie anhand rassischer Kriterien ausgewählt, so wie es auch bei der SS üblich war. Während ihres Heimaufenthaltes wurde zudem ohne ihr Wissen ein rassisches Gutachten angefertigt. Auch wurden die Mütter dazu angehalten, ihre Kinder anstelle der Taufe einer "SS-Namensgebung" zu unterziehen, um sie symbolisch in die "SS-Sippengemeinschaft" aufzunehmen. Die Geheimhaltung der Geburten wurde durch Standesämter und polizeiliche Meldestellen in den Heimen gewährleistet. Diese unterdrückten die gesetzlich vorgeschriebene Weitermeldung der Beurkundungen.

Ab 1942 beteiligte sich der "Lebensborn" an der Eindeutschung mehrerer hundert Kinder und Jugendlichen im Alter von wenigen Monaten bis 17 Jahren. Sie waren aus dem damaligen Jugoslawien, aus Norwegen, Polen oder der früheren Tschechoslowakei gegen den Willen oder ohne Wissen ihrer Eltern oder Erziehungsberechtigten nach Deutschland verschleppt worden. Der "Lebensborn" gab ihnen deutsche Namen, erzog sie in seinen Heimen zu vermeintlich deutscher Lebensweise oder vermittelte sie in deutsche Pflegefamilien zum Zwecke einer späteren Adoption. Gleichzeitig stellte er ihnen neue Geburtsurkunden mit deutscher Nationalität aus.

Nach den rassenideologischen Vorstellungen der „Lebensborn“-Verantwortlichen sollte die Auslese der werdenden Mütter „minderwertigen“ Nachwuchs verhindern. Dennoch wurden in den „Lebensborn“-Heimen Kinder mit schweren Behinderungen geboren. Sie wurden sofort in sogenannte Kinderfachabteilungen überwiesen. Dort wurden sie im Rahmen der „Kindereuthanasie“ ermordet. Bislang sind 17 getötete „Lebensborn“-Kinder bekannt.

Die Schicksale der unehelichen "Lebensborn"-Kinder waren sehr unterschiedlich. Die meisten blieben für mehrere Monate, manche für ein bis zwei Jahre in einem "Lebensborn"-Heim. Ein Teil von ihnen wurde von Heim zu Heim, von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschoben, bis sie, häufig erst nach dem Krieg, von einem kinderlosen Ehepaar auf Dauer aufgenommen wurden. Andere Kinder kehrten nach unterschiedlich langer Zeit der Trennung von ihren Müttern zu ihnen zurück, nachdem sich deren Lebenssituation stabilisiert hatte. Fast allen unehelich geborenen "Lebensborn"-Kindern ist gemeinsam, dass ihnen von ihren Müttern oder ihren Adoptiveltern die Herkunft verschwiegen wurde.

Es gibt daher "Lebensborn"-Kinder, die überhaupt keine Kenntnis über ihre familiären Wurzeln haben, zumal die vom "Lebensborn" geführten Standesamtsunterlagen bei Kriegsende vernichtet wurden. Diese Kinder suchen teilweise bis heute nach ihren leiblichen Eltern. Ähnlich erging oder ergeht es den aus dem Ausland nach Deutschland verschleppten Kindern. Aufgrund ihrer eingedeutschten Namen und der gezielten Vernichtung von Akten konnten sie nach dem Krieg nicht alle identifiziert und in ihre Heimatländer zu ihren Familien zurückgebracht werden. So lebt von ihnen eine unbekannte Anzahl noch heute in der Bundesrepublik, ohne zu wissen, dass ihre Eltern eine andere Nationalität besaßen. Initiativen wie der Verein Lebensspuren kümmern sich seit Jahren um die Interessen der Lebensbornkinder und die geschichtliche Aufarbeitung des "Lebensborn e.V.".

Georg Lilienthal
29. April 2020

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