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Die Dolchstoßlegende

Heimtückisch stößt der Sozialdemokrat dem deutschen Frontsoldaten den Dolch in den Rücken, damit dieser mitsamt der schwarz-weiß-roten Fahne des Kaiserreiches zu Boden sinkt. Das Motiv des von hinten erdolchten Soldaten fand in der Weimarer Republik durch rechte Organisationen und Parteien häufig Verwendung. Schon unmittelbar nach Kriegsende war im Deutschen Reich die Legende vom sogenannten Dolchstoß in den Rücken der Armee entstanden. Zwar hatte die Oberste Heeresleitung im Herbst 1918 erkannt, dass die erschöpften deutschen Streitkräfte zur weiteren Kriegsführung nicht mehr imstande waren, dass Resignation und Desertion um sich griffen und ein alliierter Durchbruch nur eine Frage von Wochen sein konnte – weshalb sie durch die Reichsregierung Waffenstillstandverhandlungen aufnehmen ließ. Die Verantwortung für die Niederlage wollten die führenden Militärs allerdings nicht übernehmen: Gezielt verbreiteten Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff in den Jahren nach 1918 das Bild eines an der Front unbesiegten Heeres, dem die Heimat durch Friedensinitiativen, linke politische Agitation, Streiks und Sabotagen in den Rücken gefallen sei.

Das Waffenstillstandsersuchen der Obersten Heeresleitung (OHL) von Anfang Oktober 1918 hatte die deutsche Bevölkerung weitgehend unvorbereitet getroffen. Die Kriegspropaganda hatte bis zum Schluss keinen Zweifel an einem deutschen Sieg zugelassen, eine militärische Niederlage schien unfassbar. Auch der Parteivorsitzende der SPD, Friedrich Ebert, empfing in seiner Funktion als führendes Mitglied der provisorischen Regierung am 10. Dezember 1918 die nach Berlin heimkehrenden Truppen mit den Worten: „Kein Feind hat euch überwunden“. Eine politische Stoßrichtung erhielt diese Aussage, als der ehemalige Feldmarschall Paul von Hindenburg am 18. November 1919 vor dem Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung über die Ursachen des militärischen Zusammenbruchs von einer heimlichen und planmäßigen "Zersetzung von Flotte und Heer" sprach. Sich auf einen englischen Offizier berufend, gab Hindenburg zu Protokoll, die deutsche Armee sei "von hinten erdolcht worden". Damit verlagerte er die Verantwortung für die militärische Niederlage von der Obersten Heeresleitung auf die politische Ebene. Er machte die Friedensresolution von 1917 für den militärischen und politischen Zusammenbruch ebenso verantwortlich wie etwa den Munitionsarbeiterstreik von 1918.

Vor allem die Parteien der extremen Rechten, die DNVP und die NSDAP, nutzten die auf Hindenburgs Autorität gestützte "Dolchstoß-Legende" zur hasserfüllten Agitation gegen die politischen Vertreter der Weimarer Republik. Es waren insbesondere Mitglieder und Anhänger von SPD und USPD, die sich neben liberalen Demokraten und Spartakisten des Vorwurfes ausgesetzt sahen, durch planmäßige Zersetzung der „Heimatfront“ den Dolch geführt zu haben. Im Verlauf der 1920er Jahre erhielten die Beschuldigungen durch völkische Gruppierungen eine immer radikalere antisemitische Richtung, denn dem „internationalen Judentum“ mit seinem angeblich undurchsichtig-verzweigten Netz aus Unternehmen und Banken sei durch die Niederlage Deutschlands reichlich Profit zugeflossen.  

Der „Dolchstoß“ als Begründung des deutschen Zusammenbruchs 1918 gehörte während der gesamten Weimarer Republik zum Standardrepertoire der nationalen Rechten. Für viele Deutsche – Militärs wie Zivilisten – war die Legende eben keine: Ungläubig hatten sie die Niederlage der noch immer tief in Feindesland stehenden deutschen Soldaten als Schock wahrgenommen, und sie bezweifelten anschließend keine der Behauptungen über eine im Felde unbesiegte Armee. Insbesondere in Kreisen der Weltkriegsteilnehmer diente der Dolchstoßvorwurf der Aufwertung des Selbstwertgefühls. Zugleich gab er dem eigenen Opfer und dem massenhaften Tod der Kameraden auf dem Schlachtfeld trotz der Niederlage zumindest einen kleinen Sinn, denn der Sieg wäre ohne den Verrat durch „vaterlandslose Sozialdemokraten“ und „jüdische Geschäftemacher“ zum Greifen nahe gewesen, so die Überzeugung in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung.

Arnulf Scriba
1. September 2014

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