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Die Göttinger Sieben

Die Revolution von 1830 erschütterte auch das Königreich Hannover, das in Personalunion mit Großbritannien regiert wurde. Hier richteten sich die aufwallenden Proteste weniger gegen den in London residierenden König Wilhelm IV. (1765-1837), als vielmehr gegen das altständisch-feudale System seines Repräsentanten in Hannover, des leitenden Ministers Ernst Graf Münster (1766-1839). Treibende Kraft der Proteste war die liberale bürgerliche Intelligenz der Universitätsstadt Göttingen: 1831 putschte eine bewaffnete Menge von Bürgern, Studenten und Dozenten gegen die örtliche Regierung und die Polizeibehörde. Zwar wurde dieser Göttinger Aufstand militärisch niedergeschlagen, doch ließ sich der Systemwechsel nicht mehr aufhalten: Wilhelm IV. entließ seinen leitenden Minister und berief eine neue Ständeversammlung ein, in der die liberalen Stimmen dominierten. 

Im September 1833 verabschiedete die Ständeversammlung nach langwierigen Verhandlungen das "Staatsgrundgesetz", das die konstitutionelle Monarchie in Hannover einführte, Bauern und Bürgertum die Zweite Kammer öffnete, den Landständen das Gesetzgebungs- und Budgetrecht übertrug und eine beschränkte Ministerverantwortlichkeit einführte. Der in Göttingen lehrende Historiker und Staatswissenschaftler Friedrich Christoph Dahlmann (1785-1860) war maßgeblich an der Abfassung dieser Verfassung beteiligt.

Nach dem Tod Wilhelms IV. 1837 endete aufgrund des männlichen Thronfolgerechts die Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover, wo Ernst August von Cumberland (1771-1851) seinem Bruder auf den Thron folgte. Der 66-jährige ausgesprochen konservative Monarch lehnte den in einer konstitutionellen Monarchie vorgeschriebenen Eid auf die Verfassung ab. Er vertagte den Landtag und erklärte die Verfassung am 1. November 1837 für ungültig und den Eid der Beamten auf die Verfassung für erloschen. Das kam einem monarchischen Staatsstreich gleich, gegen den sich Dahlmann als Mitverfasser des Staatsgrundgesetzes auflehnte. Gemeinsam mit den ebenfalls an der Göttinger Universität lehrenden Professoren Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Wilhelm Eduard Albrecht (1800-1876), Georg Gottfried Gervinus (1805-1871), Heinrich Georg August Ewald (1803-1875) sowie Wilhelm Eduard Weber (1804-1891) erklärte er am 18. November 1837 öffentlich, sich auch weiter an die Verfassung gebunden zu fühlen und an keinen Aktionen gegen das Staatsgrundgesetz teilnehmen zu wollen. Drei Wochen später wurden die als "Göttinger Sieben" bekannt gewordenen Professoren fristlos entlassen; Dahlmann, Gervinus und Jacob Grimm mussten binnen drei Tagen das Land verlassen.

Der Rechtsbruch des Königs von Hannover und sein drastisches Vorgehen gegen die sieben Professoren sowie die Tatsache, dass der Deutsche Bundestag auf Betreiben Metternichs nichts gegen die Anmaßung König Ernst Augusts unternahm, lösten in Deutschland ein gewaltiges politisches Echo aus. Die für die politischen Rechte der Bürger eingetretenen Professoren wurden als Helden und Märtyrer der Freiheit verehrt. Dies reichte von spontanen öffentlichen Sympathiebekundungen bis zur Bildung von Hilfskomitees, die Geld sammelten, um die Entlassenen finanziell zu unterstützen. 

Die revidierte Verfassung, die das Königreich Hannover 1840 erhielt, fiel vor diesem Hintergrund weitaus weniger reaktionär aus, als ursprünglich erwartet. Vier der "Göttinger Sieben" blieben ihrem Verfassungseid weiter treu: Albrecht, Dahlmann, Gervinus und Jacob Grimm waren 1848 als Mitglieder der Nationalversammlung in der Paulskirche maßgeblich an der Abfassung der Grundrechte des Deutschen Volkes sowie an der Ausarbeitung der Verfassung des Deutschen Reiches beteiligt. Für Jahrzehnte prägten sie das Bild der "politischen Professoren" – auch in der Paulskirche, in der 49 der 830 Abgeordneten Professoren waren.

Dorlis Blume
10. Oktober 2014

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