> Vormärz und Revolution

Wissenschaft, Forschung und Technik

Mit dem Ende der Napoleonischen Ära und dem Beginn der Friedenszeit blühten Wissenschaft und Forschung an deutschen Universitäten auf. Durch staatliche Reformen wurde der Grundstein zur Forschungsuniversität gelegt. Die Naturwissenschaften etablierten sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts neben den Geisteswissenschaften und schufen die Voraussetzung für technische und medizinische Errungenschaften der Gründerzeit. Daneben entstanden im Zuge der Frühindustrialisierung erste polytechnische Hochschulen.

Das frühe 19. Jahrhundert war geprägt durch Umwälzungen, welche das Arbeits- und Wirtschaftsleben der Menschen radikal veränderten. Erfindungen wie die Dampfmaschine und die Dampflokomotive läuteten das Zeitalter der Industrialisierung auch in Deutschland ein. Anfangs wurden diese Erfindungen noch aus England importiert, später konstruierten deutsche Maschinenmeister oder Mechaniker wie August Friedrich Wilhelm Holtzhausen (1768-1827) oder Franz Dinnendahl (1775-1826) erstmals selbstständig Dampfmaschinen. Friedrich König (1774-1833), der 1812 die Schnellpresse erfunden hatte, gründete 1817 die erste Druckmaschinenfabrik. Der deutsche Unternehmer und Zimmermann August Borsig (1804-1854) begann ab 1831 mit dem Bau eigener Lokomotiven. Weitere bahnbrechende Erfindungen waren in jener Zeit das Laufrad von Carl Freiherr Drais von Sauerbronn (1785-1851), die Fotografie von Joseph N. Nièpce (1765-1833) und Louis J. M. Daguerre (1787-1851), das Zündnadelgewehr von Johann Nikolaus Dreyse (1787-1867) sowie die Doppelsteppstich-Nähmaschine von Elias Howe (1819-1867).


Institutionalisierung naturwissenschaftlich-technischer Bildung

Einhergehend mit der Frühindustrialisierung, ihren technischen Erfindungen und Entwicklungen, nahm die naturwissenschaftlich-technische Bildung ihren Aufschwung und veränderte langsam die Einstellung der Menschen zur modernen Technik. Angesichts der neuen Anforderungen ergriffen Stadtverwaltungen oder führende Kaufleute die Initiative zur Gründung von Realschulen, berufsbildende Fachschulen und Fortbildungsstätten. Die Zahl der Realschulen nahm seit den 1830er Jahren stetig zu. Für den Bergbau, das Baugewerbe und die Land- und Forstwirtschaft entstanden zahlreiche neue Bildungsanstalten.

1821 wurde in Berlin von Christian Peter Wilhelm Beuth (1781-1853) eine Technische Gewerbeschule gegründet. Daneben entstanden zahlreiche Handwerks- oder Gewerbeschulen. 1815 richtete man in Wien als Reaktion auf die französische Fachhochschule ein Polytechnisches Institut ein, das zum Vorbild für Einrichtungen in anderen deutschen Staaten wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in Deutschland kaum wissenschaftlich qualifizierte Techniker vorhanden. Seit den 1820er Jahren entstanden auch in München, Dresden und Karlsruhe polytechnische Hochschulen. Ihren Standort in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft mussten sie sich erkämpfen, da von Seiten der klassischen Universität technische Bildung noch nicht als gleichwertig betrachtet wurde. Man versuchte dort, das praktischen Handeln britischer Ingenieure und dem theoriegeleiteten Vorgehen der französischen Polytechniker zu verbinden. Dies gelang vor allem in den Maschinenwissenschaften Ferdinand Redtenbacher (1809-1863), der als Begründer des wissenschaftlichen Maschinenbaus gilt und von 1841 bis zu seinem Tod an der polytechnischen Schule in Karlsruhe als Professor für Mechanik und Maschinenlehre wirkte.

Die reformierten Universitäten blieben gemäß ihrer neuhumanistischen Ausrichtung noch unberührt von den Entwicklungen der Frühindustrialisierung. Die von Wilhelm von Humboldt geforderte Einheit von Forschung und Lehre ebnete jedoch den Weg zur modernen Forschungsuniversität. Diese zeichnete sich nicht mehr durch enzyklopädisch gebildete, sondern durch forschende und spezialisierte Wissenschaftler sowie durch die Einrichtung von Seminaren, Laboren und Instituten aus.

Hierdurch wurden Grundlagen für die vergrößerte internationale Ausstrahlung der deutschen Universitäten ab der Jahrhundertmitte gelegt. Auch wies die Wissenschaft eine immer stärkere Innendifferenzierung auf. Es entstanden Einzeldisziplinen und Spezialgebiete. Deutsche Wissenschaftler begannen, sich in fachspezifischen Gesellschaften zusammenzufinden. Die Wissenschaften trugen so zur Bildung eines gesamtdeutschen Bewusstseins bei.

Die Naturwissenschaften, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch von der Naturphilosophie überlagert waren, übernahmen die neuen Ideen des Strebens nach wissenschaftlicher Entdeckung. Zum Aufstieg der Naturwissenschaften trug auch die Gründung von wissenschaftlichen Zeitschriften bei. Sie machten die Ergebnisse der Forschung international bekannt und erzeugten ein gemeinsames Bewusstsein von Forschungslage und Forschungsaufgaben.

Alexander von Humboldt als Netzwerker

Insbesondere der Naturforscher, Forschungsreisende, Geograf und Kosmograf Alexander von Humboldt nahm als Mitglied der Preußischen Akademien der Wissenschaften Einfluss auf Berufungen an Universitäten und Akademien, betrieb den Bau wissenschaftlicher Institute und setzte die Habilitation von Juden und ihre Aufnahme in die Akademie durch. 

1828 machte er Carl Friedrich Gauß (1777-1855) mit dem Physiker Wilhelm Eduard Weber (1801-1894) bekannt und regte sie zum Studium des Erdmagnetismus an. Als Resultat dieser Zusammenarbeit gilt die Konstruktion des ersten elektromagnetischen Telegrafen (1833), der das physikalische Institut der Universität Göttingen mit der Sternwarte verband, und den Beginn der Elektrotechnik markierte. Weber und Gauß wollten das industrielle Potential des Telegrafen jedoch nicht nutzen. Bei seiner Entwicklung kam auch das Ohmsche Gesetz zur Anwendung. Dieses von Georg Simon Ohm (1789-1854) formulierte Gesetz war für die Entwicklung der elektrischen Starkstromtechnik und der elektrischen Messtechnik bahnbrechend.

Finanzielle Anreize zur Serienreife von Telegrafieapparaten setzten die Eisenbahngesellschaften, die das Ziel hatten, ihre Linien zu vernetzen und über kein zuverlässiges Informationssystem verfügten, das schneller als die Eisenbahn war. 1843 setzte die Rheinische Eisenbahn bei Aachen den ersten elektrischen Telegrafen von Charles Wheatstone ein, der wiederum als Vorbild für den Zeigertelegrafen von Werner Siemens (1816-1892) und Johann Georg Halske (1814-1890) diente.

Basierend auf den Erkenntnissen von Hans Christian Oersted (1777-1851) und Michael Faraday (1791-1867), welche die magnetische Wirkung des elektrischen Stroms erkannten, konstruierte Moritz Hermann von Jacobi (1801-1874) 1834 den ersten Elektromotor, der von einer Batterie gespeist wurde.

Auch Justus von Liebig profitierte von einer Empfehlung Alexander von Humboldts, durch den er 1824 eine Professur in Gießen erlangte. Liebig führte in seinem chemischen Laboratorium eine theoretisch begründete empirische Forschung ein, die er zuvor in Paris kennengelernt hatte und gewann auf dem Feld der organischen Chemie internationales Ansehen. Ab den 1840er Jahren wandte sich Liebig der praktischen Verwertbarkeit seiner Erkenntnisse für Landwirtschaft, Volksernährung und Abwasserproblematik zu.


Meilensteine der medizinischen Forschung

Die Medizin wandelte sich in Abgrenzung zur Naturphilosophie zu einer exakten Wissenschaft. Sie sollte allein auf Tatsachen, exakter Beobachtung, Messung und Experiment beruhen und sich auf die Disziplinen Physiologie und Anatomie stützen. Johann Lukas Schönlein (1793-1864) galt als einer der ersten modernen Kliniker und führte ab 1840 als Professor der Medizinischen Fakultät Berlin naturwissenschaftliche Methoden in der Diagnostik am Krankenbett ein. Diese Methoden kamen vor allem in den Krankenhäusern zum Tragen, die es bereits seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland gab und deren Zahl seit 1840 stark zunahm, als die industrielle Revolution zu einem schnellen Wachstum der urbanen Zentren in Mitteleuropa führte. Bedingt durch die damit einhergehende Verelendung betrug die Lebenserwartung der Menschen im Durchschnitt ungefähr 30 Jahre. Jeder siebte Bürger in Europa wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts Opfer einer Infektion. Medizinische Antworten auf Krankheiten wie Tuberkulose, Diphterie oder Cholera fand man erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Von der Modernisierung der Universitäten profitierte auch die Grundlagenforschung, welche Deutschlands führende Rolle in der Medizin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründete. In der Physiologie war Johannes Müller (1801-1858) wegweisend, dessen anatomische, histologische und embryologische Studien über Drüsen, das Genital-, Verdauungs-und Nervensystem die Arbeiten seiner Schüler Rudolf Virchow, Jakob Henle (1809-1885), Theodor Schwann (1810-1882) und Hermann von Helmholtz (1821-1894) maßgeblich beeinflusste. Virchow wurde durch Müller auf dem Gebiet der Zellularpathologie zu seiner späteren Arbeit über Tumore angeregt. Henle erkannte durch mikroskopische Studien, dass Epidemien durch Mikroorganismen hervorgerufen und durch Ansteckung übertragen werden. Theodor Schwann und Matthias Jakob Schleiden (1804-1881) formulierten erstmals die Zelltheorie, nach welcher alle lebenden Gewebe aus Zellen bestehen. Hermann von Helmholtz, der sich später der Physik zuwandte, formulierte 1847 das Gesetz von der Erhaltung der Energie. Im Bereich der Embryologie beschrieb 1827 Karl Ernst von Baer (1792-1876) erstmals die Eizelle der Säugetiere.

Anke Schrader
27. November 2019

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